Vorgeschichte der Kritik der reinen Vernunft

Das mittelalterliche Weltbild glich einer Kathedrale. Sie war eingestürzt und ihre Trümmer sind bei Kant gelandet. Er hat sie sehr genau betrachtet, einige davonn aussortiert und andere neu wieder zusammengesetzt.

Die Frage nach dem Warum und des Zeitpunktes der KdV führt zurück ins Mittelalter.

Copyright 2015 Robert Seidemann
„Das mittelalterliche Gebäude der Metaphysik hatte drei Stockwerke und einen »Dachstock« oder Turm. Es baute auf dem auf was die Alten „Sensus“ – unsere sinnliche Wahrnehmung nannten. Über dem „Parterre“ oder Fundament der empirisch erfahrbaren sinnlichen Wirklichkeit erhob sich für den mittelalterlichen Philosophen der menschliche Verstand, die „Ratio“, welcher aufgrund seiner begrifflich-logischen Struktur aus den einzelnen sinnlichen Wahrnehmungen eine begreifbare Wirklichkeit macht. Auf der nächsthöheren Stufe sahen die Alten die menschliche Vernunft oder den „Intellectus“, welcher als integrales Ideenvermögen Einblick in die großen Ideen hat, nach denen die ganze Schöpfung hervorgebracht wurde und regiert wird. Hier begegneten die mittelalterlichen Seher in einer Art „übersinnlichem Empirismus“, wie Schelling sich ausdrückt, den reinen Intelligenzen oder Engelchören, der Geisterwelt also, welche demiurgisch am göttlichen Schöpfungsplan beteiligt ist. Das Dach des Gebäudes bildete Gott, der höchste Schöpfer und eigentliche Grund für alles Dasein vom Sensus bis zu den Intelligenzen. Dieser Dom der Erkenntnis geriet durch den mittelalterlichen Universalienstreit und die Skepsis der sogenannten „Nominalisten“ ins Wanken: Je selbstbewußter der Mensch nach der Wirklichkeit der Ideen und dem Sein Gottes fragte und sie anzuzweifeln wagte, je unwirklicher wurde das Reich des Übersinnlichen, bis das Schauen der Intelligenzen und die mystische Erfahrung Gottes — ganz deutlich und einschneidend dann im 19. und im 20. Jahrhundert — nur mehr als Spekulation angesehen und für eine spezielle „subjektive Befindlichkeit“ der menschlichen Psyche gehalten wurde. Die Grundlagen für diese Entwicklung waren bereits an der Schwelle zur Neuzeit gelegt; da drohte das mittelalterliche Erkenntnis-Gebäude einzustürzen. Nach der nominalistischen Skepsis bedurfte es nur mehr der sogenannten »cartesianischen Wende«, daß es nämlich das menschliche Denken sei, welches an die Spitze des Gebäudes gestellt werden müsse, weil es zwar alles anzweifeln kann, nicht aber sich selbst, den Zweifelnden, um das wankende Gebäude endgültig zum Einsturz zu bringen.“ (Michael Frensch, Hrsg. Lust an der Erkenntnis: Esoterik von der Antike bis zur Gegenwart, Piper 1991, S.279 f.)

Bei diesem Gedankengebäude ist alles über dem Kirchenschiff Metaphysik. Dort tut der Engel Schaar seinen Dienst, wohlgeordnet in hierarchischer Struktur unter der Leitung von Erzengel, Cherubim und Seraphim. Die Aussagen über diese metaphysischen Sphären hatten sehr rationale Formen angenommen. Da auch Naturforscher wie Swedenborg und selbst Newton esoterischen bzw. alchimistischen Strömungen folgten, drängte sich eine Frage grundsätzlicher Art auf: „Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich?“ (KdV, Einleitung Ausgabe 2001, S.111.) Zur Beantwortung dieser Frage nahm Kant alles in Betracht, was vor ihm an brauchbaren Gedanken entwickelt worden war. Dazu gehörte in großem Umfang das Gedankengut der Empiristen, die das Fundament des „Sensus“ weitergedacht hatten. Von John Locke (1632— 1704) übernimmt er denn auch ganz direkt „Das Ding an sich“ und David Hume (1711— 1776) erwähnt er schon in der Einleitung. Dabei ist er der Ansicht, der Empirismus wäre durchaus zu weitreichenderen Aussagen fähig. Den Bereich der Ratio hatten Voltaire und Descartes in Frankreich und Leibnitz in Deutschland weiterentwickelt. Sowohl Descartes als auch Leibnitz hatten Urteile über die Existenz Gottes formuliert. Sie klingen einleuchtend und schlüssig. Kommt ein solches Urteil dann auch noch von einer den größten wissenschaftlichen Kapazitäten der Zeit, erlangt es eine große Bedeutung. Sind das aber Gründe für seine Richtigkeit? Um diese Fragen zu beantworten, musste die KdV auf einem soliden und sozusagen erdbebenfesten Fundament stehen. Das erreicht Kant durch klar definierte Begriffe, die man auch nach 200 Jahren noch eindeutig bestimmen kann. Und er beginnt quasi bei den elementarsten Grundlagen des Denkens: wie gestaltet sich das Zusammenwirken der Anschauung des Dings ans sich und seine Zuordnung zum Begriff? Nach diesen Überlegungen stellt sich in der transzendentalen Analytik heraus, dass der Verstand die Welt der Erscheinungen aus sich heraus im Wechselspiel mit den Anschauungen erschafft. Daraus folgt, dass wissenschaftliche Aussagen nur Gültigkeit im Rahmen der Grenzen des Verstands haben, also nur im Rahmen von Raum, Zeit und Anschauung. Da die Metaphysik den darüberhinausgehenden Bereich, sozusagen Dachstuhl und Turm der Kirche, umfasst, können darüber keine wissenschaftlichen Aussagen getroffen werden. Sowohl Descartes als auch Leibnitz liegen mit ihren Gottesbeweisen daneben. Ganz vorbei war es für die Theologie als Leitwissenschaft. Sie hatte 1781 ihre Leuchtturmfunktion endgültig verloren.

Kant. Kritik der reinen Vernunft in Kurzform

Von den Urteilen des Verstands zu den Schlüssen der Vernunft

Immanuel Kant präsentiert ein 2 stufiges Modell der Informationsaufnahme- und Verarbeitung im Gehirn eines vernünftigen Wesens, des
Ich
Das Ich ist unbedingt: Summe seiner Erfahrungen – Identität als Einheit seiner Vorstellungen

Als Einheit der Aperzeption ist das Selbstbewußtsein Bedingung

  • der Subjektivität (Ich als Intelligenz und denkend Subjekt)
  • der Objektivität (Erkenne mich selbst als gedachtes Objekt)

Daraus ergibt sich die Janusgesichtigkeit des Menschen als

  • Erscheinung:      Naturwesen → Kausalität
  • Ding an sich:      als Idee → Freiheit
  1. Transzendentale Analytik. Verstand

Mit allen Sinnen nehmen wir die Objekte wahr. Zuordnung nach einem Schema zu Begriffen durch

  • Transzedentale Ästhetik: f(x,y,z;t)
  • Transzedentale Analytik: Anschauung-Kategorien (a priori) Begriffe, Urteile + Spontanität!

Dabei fällen wir Urteile als

  • Analytisches Urteil „Tautologisch“ ¬f (x,y,z;t) A priori
  • Synthetisches Urteil, erweitert den Verstand um Neues aus Sinnlichkeit f (x,y,z;t) A posteriori

Wissenschaft ist im Rahmen von Objekten möglich, die in Raum und Zeit existieren und über die nach Begriffen geurteilt bzw. entschieden (disputiert) werden kann. Demnach kann es keine Wissenschaft der Metaphysik geben. A priori ist lediglich teilweise die Arbeitsweise des Verstandes. Der Mensch gibt sich damit nicht zufrieden, will mehr erkennen:

  1. Transzendentale Dialektik Vernunft

Vernunft Zieht Schlüsse aus Urteilen + Begriffen (s.o.) Strebt nach dem Absoluten dem Unbedingten

Löst die Kategorien von der Anschauung und wendet sie ins Absolute: den Ideen

I) Unsterblichkeit II) Kosmos III) Gott

Sie müssen gedacht werden, können aber nicht bewiesen werden. Bei der logischen Begründung der Ideale ergeben sich Widersprüche: die Antinomien.
die 3. Antinomie ist der Zielpunkt der K.d.V.

3 Antinomie: Kausalität – Freiheit

  • Ich als Erscheinung: unterliegt der Kausalität
  • Ich als Ding an sich: Freiheit

Das Ich entwickelt nicht bedingte Ideen (aus Freiheit), die unbedingte Ursache von Wirkungen sind (die ihrerseits der Kausalität unterliegen). Die Wirkung ist beweisbar, die Freiheit nicht. These und Antithese sind beide gültig.

Als One Note Skizze: Kant Kritik der reinen Vernunft Kurzform

Begriffe zur Kritik der reinen Vernunft: Begriffe zu Kritik der reinen Vernunft

 

Gibt es eine Erkenntnis des Übersinnlichen?

Leibniz und Kant über die Grenzen des Wissens.

Leibniz und Kant über die Grenzen des Wissens. Prof. Bernd Ludwig, Wintervortrag 2015/16. Zitate

1 So, wie z. B. der Geist bei der Idee eines Dreiecks es als notwendig darin enthalten erkennt, dass seine drei Winkel gleich zwei rechten sind und deshalb überzeugt ist, dass ein Dreieck drei Winkel hat, die gleich zwei rechten sind, so muss er lediglich daraus, dass er einsieht, dass in der Idee eines höchst vollkommenen Wesens das notwendige und Dasein enthalten ist, folgern, dass das höchst vollkommene Wesen existiert. (Descartes, Principia 1,14)

2 Man hätte jedoch ohne Vermittlung des Begriffs von Vollkommenheit oder Größe die Beweisführung schärfer und angemessener wie folgt fassen können: Das notwendige Wesen — als das Wesen, dessen Essenz seine Existenz besagt oder das Wesen an sich – existiert, wie das schon aus den Worten erhellt. Nun ist Gott — gemäß seiner Definition — ein solches Wesen, also existiert Gott. Dieses Argument ist schlüssig, sofern nur zugegeben wird, dass das vollkommenste oder größte Wesen möglich ist und keinen Widerspruch einschließt (essepossibile, nec implicare cvntradictionem). Oder, was dasselbe besagt, dass eine Essenz möglich ist, aus der die Existenz folgt. Solange aber diese Möglichkeit nicht bewiesen ist, darf man auch die Existenz Gottes durch ein derartiges Argument nicht für vollkommen bewiesen erachten. (Und konziliant fügt Leibniz hinzu:) Immerhin lernen wir aus der obigen Beweisführung das ausgezeichnete Vorrecht der göttlichen Natur (divinae naturae Privilegium) kennen, dass sie, sofern sie nur möglich ist (si modo sitpossibilis), auch ohne weiteres existiert (eo ipso existat), was bei den übrigen Gegenständen zum Beweis ihres Daseins (ad existentiamprobando) nicht ausreicht. (Leibniz, ed. Gerhard IV,359)

,Möglichkeitserkenntnis‘ beruht nach Leibniz entweder (1) direkt auf Erfahrung oder auf einer von 3 Formen der Realdefinition: (2) Realdefinition vermittels Konstruktion (mathematische Gegenstände) (3) Realdefinition vermittels unmittelbarer Verursachung durch seinerseits bereits als möglich Erwiesenes (Erfahrungsgegenstände) (4) Realdefinition vermittels vollständiger Zerlegung des Begriffs (Gegenstände von Ideen)

3 Man sieht aus dem bisherigen leicht: daß ein reiner Vernunftbegriff, d. i. eine bloße Idee, sei, deren objective Realität dadurch, daß die Vernunft ihrer bedarf, noch lange nicht bewiesen ist, welche auch nur auf eine gewisse, obzwar unerreichbare Vollständigkeit Anweisung giebt und eigentlich mehr dazu dient, den Verstand zu begrenzen, als ihn auf neue Gegenstände zu erweitern. (Kant KrVA 592, Herv. B. L.) (Ausgabe zweitausendeins: S.385)

4 Der Begriff ist allemal möglich, wenn er sich nicht widerspricht.(…) Allein er kann nichts desto weniger ein leerer Begriff sein, wenn die objektive Realität der Synthesis, dadurch der Begriff erzeugt wird, nicht besonders dargethan welches aber jederzeit, wie oben gezeigt worden, auf Principien möglicher Erfahrung und nicht auf dem Grundsatze der Analysis (dem Satze des Widerspruchs) beruht. Das ist eine Warnung, von der Möglichkeit der Begriffe (logische) nicht sofort auf die Möglichkeit der Dinge (reale) zu schließen. (A 596 Fn;)

5 Der Begriff eines höchsten Wesens ist eine in mancher Absicht sehr nützliche Idee; sie ist aber eben darum, weil sie bloß Idee ist, ganz unfähig, um vermittelst ihrer allein unsere Erkenntniß in Ansehung dessen, was existirt, zu erweitern. Sie vermag nicht einmal so viel, daß sie uns in Ansehung der Möglichkeit eines Mehreren belehrte. Das analytische Merkmal der Möglichkeit, das darin besteht, daß bloße Positionen keinen Widerspruch erzeugen, kann ihm (sc. dem Begriff eines höchsten Wesens, B. L.) zwar nicht gestritten werden; da aber die Verknüpfung aller realen Eigenschaften (!) in einem Dinge (!) eine Synthesis ist, über deren Möglichkeit wir a priori nicht urtheilen können, weil uns die Realitäten specifisch nicht gegeben sind, und, wenn dieses auch geschähe, überall gar kein Urtheil darin stattfindet, weil das Merkmal der Möglichkeit synthetischer Erkenntnisse immer nur in der Erfahrung gesucht werden muß, zu welcher aber der Gegenstand einer Idee nicht gehören kann: so hat der berühmte Leibniz bei weitem das nicht geleistet, wessen er sich schmeichelte, nämlich eines so erhabenen idealischen Wesens Möglichkeit a priori einsehen zu wollen. (A 603) (Ausgabe zweitausendeins: S.389)

6 Notwendigkeit (ist) nichts als jene Existenz, die durch die Möglichkeit selbst gegeben ist. (B 111)

7 Diese Freiheit des Willens vorauszusetzen, ist (a) auch nicht allein (ohne in Widerspruch mit dem Princip der Naturnothwendigkeit in der Verknüpfung der Erscheinungen der Sinnenwelt zu gerathen) ganz wohl möglich (wie die speculative Philosophie zeigen kann), sondern (b) auch sie praktisch, d.i. in der Idee, allen seinen willkürlichen Handlungen als Bedingung unterzulegen, ist einem vernünftigen Wesen, das sich seiner Causalität durch Vernunft, mithin eines Willens (der von Begierden unterschieden ist) bewußt ist, ohne weitere Bedingung nothwendig. (Grundlegung 4:461)

8 Als ein vernünftiges, mithin zur intelligibelen Welt gehöriges Wesen kann der Mensch die Causalität seines eigenen Willens niemals anders als unter der Idee der Freiheit denken; denn Unabhängigkeit von den bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt (dergleichen die Vernunft jederzeit sich selbst beilegen muß) ist Freiheit. (4:452)

9 Daher ist es eine unnachlaßliche Aufgabe der speculativen Philosophie: wenigstens zu zeigen, daß ihre (der dogmatischen Philosophie) Täuschung wegen des Widerspruchs darin beruhe, daß wir den Menschen in einem anderen Sinne und Verhältnisse denken, wenn wir ihn frei nennen, als wenn wir ihn als Stück der Natur dieser ihren Gesetzen für unterworfen halten. (4:456)

10 Antinomie: Es ist eine Kausalität durch Freiheit zur Erklärung (der Erscheinungen der Welt insgesamt) anzunehmen notwendig (A 444) (und) Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur (A 445) (Ausgabe zweitausendeins: S.316)

11 Daß diese Antinomie auf einem bloßen Scheine beruhe, und daß Natur der Causalität aus Freiheit wenigstens nicht widerstreite, das war das einzige was wir leisten konnten, und woran es uns auch einzig und allein gelegen war. (A 558, Hel-v. B. L.) (Ausgabe zweitausendeins: S.369)

12 Wo aber Bestimmung nach Naturgesetzen aufhört, da hört auch alle Erklärung auf, und es bleibt nichts übrig als Vertheidigung, d. i. Abtreibung der Einwürfe derer, die tiefer in das Wesen der Dinge geschaut zu haben vorgeben und darum die Freiheit dreust für unmöglich erklären. (4:459)

13 Nun behaupte ich: daß wir jedem vernünftigen Wesen, das einen Willen hat, notwendig auch die Idee der Freiheit leihen müssen, unter der es allein handle. (…) der Wille desselben kann nur unter der Idee der Freiheit ein eigener Wille sein und muß also in praktischer Absicht allen vernünftigen Wesen beigelegt werden. (4:448; Herv. B. L.)

14 (Es) giebt die Vernunft nicht demjenigen Grunde, der empirisch gegeben ist, nach und folgt nicht der Ordnung der Dinge, so wie sie sich in der Erscheinung darstellen; sondern macht sich mit völliger Spontaneität eine eigene Ordnung nach Ideen, in die sie die empirischen Bedingungen hinein paßt, und nach denen sie sogar Handlungen für nothwendig erklärt ( ! ) die doch nicht geschehen sind und vielleicht nicht geschehen werden, von allen aber gleichwohl voraussetzt ( ! ), daß die Vemunft in Beziehung auf sie Causalität haben könne ( ! ); denn ohne das sie nicht von ihren Ideen Wirkungen in der Erfahrung erwarten. (A 548, Herv. B. L.)

5 Daher wir, was Freiheit sei, in praktischer Beziehung (…) gar wohl verstehen, in theoretischer Absicht aber, was die Causalität derselben (gleichsam ihre Natur) betrifft, ohne Widerspruch nicht einmal daran denken können, sie verstehen zu wollen. (06:144; Herv. B. L.)

16 Nun ist nicht das Mindeste, was uns hindert, diese Ideen auch als objectiv und hypostatisch anzunehmen, außer allein die kosmologische, wo die Vernunft auf eine Antinomie stößt, wenn sie solche zu Stande bringen will (die psychologische und theologische enthalten dergleichen gar nicht). Denn ein Widerspruch ist in ihnen nicht; wie sollte uns daher jemand ihre objective Realität streiten können, da er von ihrer Möglichkeit eben so wenig weiß, um sie zu verneinen, als wir, um sie zu bejahen! (A 673)

Menschenwürde

Ein Begriff im Wandel der Zeiten: Menschenwürde. Wie hat er sich entwickelt? Was bedeutet er uns heute?

Prof. Dietmar von der Pfordten, Philosophische Abendvorlesung am 4.11.15

Begriffe der Menschenwürde – Handout zur Vorlesung

Man muss zwischen wenigstens vier Teil-Begriffe von der Menschenwürde unterscheiden: einer großen, einer kleinen, einer mittleren und einer ökonomischen würde.

  1. bei der großen Menschenwürde handelt es sich um eine nichtkörperliche, innere, im Kern unveränderliche, notwendige und allgemeine Eigenschaft des Menschen, wie sie in einer ersten, noch wenig reflektierten Form bei Cicero auftauchte, vor allem vom Christentum weiter getragen und dann nach ersten Ansätzen in der italienischen Renaissance insbesondere von Kant als Selbstgesetzgebung bzw. Selbstbestimmung konkretisiert wurde. Diese große Menschenwürde lässt sich so der hier unterbreitete Vorschlag am besten als Selbstbestimmung über die eigenen Belange verstehen.
  2. mit der kleinen Menschenwürde ist dagegen die nicht körperliche, äußere, veränderliche Eigenschaft der wesentlichen sozialen Stellung und Leistung eines Menschen gemeint, wie sie auf eine herausgehobene soziale Position eingeschränkt bereits mit dem lateinischen Ausdruck Dignitas bezeichnet wurde.
  3. als Grenzfall der kleinen Würde kennt man seit Samuel von Pufendorf im 17. Jahrhundert noch eine mittlere Würde. Auch sie bezieht sich auf die äußere Eigenschaft der wesentlichen sozialen Stellung der Menschen, betont aber die natürliche und damit im Prinzip unveränderliche Gleichheit dieser sozialen Stellung aller Menschen.
  4. schließlich fordern im 19. Jahrhundert insbesondere Vertreter der sozialistischen Bewegung ein menschenwürdiges Dasein. Damit wurde die Verwirklichung ökonomischer bzw. materieller Voraussetzungen der Menschenwürde verlangt. Man kann insofern abkürzend von einer ökonomischen Würde, genauer von einer ökonomischen Würdebedingung sprechen.Alle vier Teilbegriffe der Menschenwürde haben eine Gemeinsamkeit: es handelt sich jeweils um eine Bezugnahme auf eine nicht körperliche Eigenschaft des Menschen. Auf dieser Gemeinsamkeit bauen die erwähnten Unterschiede auf. In dem Ende November 2015 bei CH. Beck erscheinende Buch von Professor von der Pfordten ist auf dem Umschlag eine Reproduktion des Porträts des Juan de Pareja aus dem Jahr 1650 zu sehen, der als Sklave dem Maler Diego Velázquez diente und von diesem gemalt wurde: ein würdevoller Sklave sozusagen.

Von der Pforten gliedert seinen Vortrag in drei Teile:

1) Historie

In der Antike findet sich der Begriff der Dignitatis: die Würde eines Konsuls oder einer Person mit besonderem Rang bedeutet, dass sie eine besondere Behandlung erwartet. Caesar führt sogar Krieg zur Verteidigung der eigenen Dignitatis. Bei Cicero findet sich der Begriff der inneren Würde. In der Folge taucht der Begriff im Zeitalter der Aufklärung bei Kant auf. Im 20. Jahrhundert findet der Begriff Eingang in die Weimarer Verfassung von 1919 sowie 1948 in die allgemeine Menschenrechtserklärung. 1943/44 wird der Begriff im Kreisauer Kreis im Zusammenhang mit dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus diskutiert. 1949 wird dem Grundgesetz die Würde des Menschen in §1 vorausgeschickt. Dies ist nicht zuletzt eine Folge der Verbrechen des NS Regimes und des Kommunismus. Die Menschenwürde erlangt dadurch eine Spitzenstellung in der Normenhierarchie. Im historischen Rückblick finden sich erste Anmerkungen in Griechenland unter dem Begriff der Seele als der Substanz des Menschen oder auch Psyche als der unsterbliche Kern des Menschen. Bei den Römern spricht Cicero von der heraus gehobenen sozialen Stellung. In der Renaissance entwickelte sich die Vorstellung vom Menschen als Ebenbild Gottes und als Träger von Würde. Sehr empfehlenswert ist das 1496 veröffentliche Buch „Oratio de hominis dignitate“ bzw. auf Deutsch „Rede über die Würde des Menschen“ von Giovanni Pico della Mirandola von der sich Ausschnitte auf der italienischen Wikipedia Seite finden.

Bei Hobbes findet sich im Leviatan der Begriff in dem Sinn von der öffentlichen Würde, die uns der uns vom Staat zugewiesen wird. Samuel von Pufendorf als Naturrechtlicher setzt die Begriffe Würde-Seele-Vernunft auf eine Ebene. „Die Pflicht des Menschen“ von 1673: es ergibt sich in seiner Argumentation eine natürliche Gleichheit der Menschen untereinander: ich bin kein Hund sondern ein Mensch wie du.

Um einen wesentlichen Schritt voran geht es durch Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Insbesondere die dritte Konkretisierungsformel des kategorischen Imperativs beinhaltet die Würde des Menschen in expliziter Form. „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ GdMdS, pdf. S.75/ bzw. Zweitausendeins Ausgabe S.677. Später konkretisiert Kant den Begriff an der Zuordnung bzw. Abstraktion von Preisen: „Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“ GdMdS, pdf.S.84. bzw. Zweitausendeins Ausgabe S.682. Vernunft und Freiheit bedingen sich gegenseitig, die Tiere sind ausgeschlossen: sie folgen ja den Naturgesetzen und haben die Freiheit nicht. Nietzsche ist der Menschenwürde gegenüber eher skeptisch: er hält sie für „Phantome eines sich vor sich selbst versteckenden Sklaven“. Lassalle betont die ökumenische Würde.

2) Auffassungen

Freiheit als Grundlage von Menschenwürde ist problematisch. Selbstbestimmung zur Umsetzung von Wünschen und Zielen wird zum Metabelang und Oberziel im Sinne eines selbstbestimmten Lebens.

3) Anwendungen

Folter: zweckgerichteter Einsatz von Gewalt: Willen brechen um dem fremden willen zu folgen. Dies ist ein zerstörerischer Einfluss, die Maximalposition ist das Umbringen. Die Sklaverei ist ebenfalls in diesem Zusammenhang zu sehen. Belange erster Stufe werden durch den Sklavenhalter bestimmt.

Die kleine Würde befindet sich im Spannungsfeld von Selbst- und Fremdbewertung. Demütigung als Abwertung durch andere bedeutet Würdeverletzung. Wer ist Träger der Menschenwürde? Sind es Embryos? Neugeborene? Beispiel Entführungsfall Metzler in Frankfurt: Staat-Opfer-Täter Beziehung. Für den Staat gegenüber dem Individuum gibt es keine generelle staatliche Genehmigung zur Gewalt. Verurteilung der verantwortlichen Polizeibeamten.

Es verwundert mich wenig, dass die tiefgründigsten Ausführungen aus der Zeit der Aufklärung stammen und dort insbesondere bei Kant zu finden sind. Erst der sich selbst seiner Vernunft bewusste Mensch kann diese zur Grundlage der Ethik machen und eine darauf basierende, alle Menschen umfassende Menschenwürde begründen und aus dem Verstand ableiten. Die Alltagsrealität bringt Nachrichten von Auffanglagern für Immigranten auf deutschem Boden, die für den allgemeinen Zutritt gesperrt sind und in denen u.a. von Vergewaltigungen berichtet wird: da werden – mal wieder- die Menschenrechte nicht geachtet.

Beseelte Wesen

Für Aristoteles sind Körper und Seele eine Einheit, zwei unterschiedliche Betrachtungsweisen desselben Gegenstands. Damit bezieht er eine Gegenposition zu Platon. Gegenüber dem Körper versteht er die Seele als Vermögen von und in Körpern: sie können Nahrung aufnehmen, sich vermehren, rumrennen oder ein Buch lesen. Von einem Wesen mit Seele sprechen bedeutet also über Lebendiges zu sprechen (vgl. Ackrill 85 ff.). Auf seinen Grundgedanken baut er eine Hierarchie des Begriffs auf, wobei jede hinzukommende Ebene die darunter befindliche beinhaltet.

Planzenseele – vegetative Seele

Nahrung, Wachstum, Fortpflanzung

Tierseele – animalische Seele

Nahrung, Wachstum, Fortpflanzung
+ Wahrnehmung, Bewegung, Tastvermögen, 5 Sinne, Streben nach Wohlsein, Tiere empfinden Lust, vermeiden aktiv Schmerzen. Sie verfügen über ein Gehirn und Verstand.

Geistseele – humane Seele

Nahrung, Wachstum, Fortpflanzung, Wahrnehmung, Bewegung, Tastvermögen, 5 Sinne, Streben nach Wohlsein, Menschen empfinden Lust, vermeiden aktiv Schmerzen. Sie verfügen über ein Gehirn und Verstand
+ Geist (nou) der sich in einen sterblichen, untrennbar mit dem Körper verbundenen Teil und einen vom Körper unabhängigen, unpersönlichen Teil aufteilt. (vgl. Höffe, S. 140 f.)

An dieser Hierarchie ist zunächst bemerkenswert, dass sie allen belebten Wesen eine Seele zuspricht. Der Mensch verfügt wohl über zusätzliche Eigenschaften und Ausprägungen, aber er hat eine gemeinsame Basis mit der belebten Natur. Die Abgrenzung zur unbelebten Welt ist mit heutigem Wissen formuliert diejenige zwischen Physik und Chemie und Biologie: die Gegenstände der biologischen Untersuchung weisen einen der Evolution unterworfenen Vererbungsprozess auf, der über ein DNA Alphabet mit 4 Buchstaben gesteuert wird. Handelt es sich um Pflanzen, so fehlen ihnen die 5 Sinne zur Wahrnehmung und ein Gehirn zur Interpretation dieser Wahrnehmung. Das Tier hat sie und kann auf diesem Weg gesunde und bekömmliche Nahrung suchen (ein schönes Beispiel von Aristoteles) und andere meiden, sich entsprechend seiner Bedürfnisse und Anforderungen in der Welt zu bewegen. Verdeutlicht man den Schritt von der Pflanze zum Tier, dann hat das Tier ein Gehirn und die Pflanze nicht.  Ein gutes Beispiel für diese Unterscheidung ist die Seescheide . Die Jugendform ist eine Larve mit Sinnesorgan und Gehirn, die sich im Meer bewegt. Hat sie erst einmal einen festen Platz am Meeresboden oder einem Schiffsrumpf eingenommen, entwickelt sich das Gehirn zurück und sie lebt wir alle anderen Pflanzen auch, filtert das Wasser zur Nahrungsgewinnung. (vgl. Peter Thier, FAZ, 10.12.14, N&W, S.N.2). Kombiniert man die heutigen wissenschaftlichen Erkenntnisse im Hinblick auf die Vererbung (vgl. Stefan Bleecken, Die Seelenlehre des Aristoteles im Lichte der modernen Wissenschaft), dann sehen die Stufen etwa so aus:

Planzenseele – vegetative Seele

Zellen, DNA, Vererbung und evolutionäre Entwicklung und Auslöschung von Arten, Wachstum, Nahrungsaufnahme, Stoffwechsel.

Tierseele – animalische Seele

Zellen, DNA, Vererbung und evolutionäre Entwicklung und Auslöschung von Arten, darüber hinaus umfangreiche Vererbung von Nervenzellen, in denen zusätzlich zur DNA weitere Informationen gespeichert sind, auf die das Lebewesen zugreift und das es durch Lernen ausbaut. Dies sind die als Instinkt umschriebenen Verhaltensweisen und von den Vorfahren intensive erlebte oder prägende Eindrücke. Niemand kann sich so roten Früchten als Sinnbild reifer, süßer Frucht oder der Faszination des Anblicks von Feuer entziehen und fühlt sich an einem Platz am Feuer wohl und geborgen, nachdem unsere Ahnen dieses Erlebnis während einer 2 Mio. Jahre dauernden Evolution immer wieder als ungemein positiv erlebt haben.

Geistseele – humane Seele

Von genetischen Prozessen angetrieben und von angeborenen Informationen im Gehirn begleitet beginnt der Mensch sein Leben. In seinem Gehirn prägen weitere informationsverarbeitende Prozesse sein Leben: Sein Denken verwendet Begriffe und Urteile, arbeitet mit Kategorien, gliedert die Wahrnehmungen nach Raum und Zeit und setzt sinnvolle Zusammenhänge zwischen seine Beobachtungen. So kann er sich besonders gut in der Welt orientieren, Gefahren vermeiden, vielfältige Nahrung finden, sich zahlreich vermehren und Vergnügen aller Art verschaffen. Neben der Weitergabe von DNA und im Gehirn abgespeicherter Information gibt er Information in Form von Texten, Bildern oder Musik weiter: der sozusagen unabhängig vom Körper weitergereichte Teil des Geistes, während der Teil mit den individuellen Erfahrungen stirbt.

Quellen:

John L. Ackrill, Oxford Berlin New York 1983, Aristoteles

Ottfried Höffe, München 2006, Aristoteles

Stefan Bleecken, Die Seelenlehre des Aristoteles im Lichte der modernen Wissenschaft,

Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken, Ausgabe 28, April 2007

Peter Thier, Frankfurter Allgemeine Zeitung 10.12.14, Natur & Wissenschaft, S.N.2

Beweise von der Existenz Gottes

Die 4. Antinonmie bei Kant: Gott

Meteora, Gr. Foto: Robert Seidemann 1986
Meteora, Griechenland. Foto: Robert Seidemann 1986

Einen besonders wichtigen Beitrag hat Kant in Bezug auf die Gottesbeweise geleistet. Das Handwerkszeug dafür liefert die Kritik der reinen Vernunft. Die Menschheit hatte eine lange Periode hinter sich, in der Mystiker, Alchimisten, Astrologen und die allesbeherrschende Doktrin der katholischen Kirche das Denken über mehr als ein Jahrtausend völlig dominiert hatten.

Der ontologische Gottesbeweis

Anselm von Canterbury, 11.Jhd. Descartes greift ihn 100 J. vor Kant wieder auf. Gott aus dem Sein schließen (to on – tou ontos = Das Sein, des Seienden). Wenn Gott ein notwendiges und vollkommenes Wesen ist, gehört zur Vollkommenheit auch die Existenz.
1) Es ist ein Unterschied zwischen dem Dasein von Urteilen und dem Dasein von Dingen.
Bsp.: Urteil: Ein Triangel umschließt 3 Winkel (Notwendig, zwingend allgemein). Das Urteil ist keine Voraussetzung für das Vorhandensein eines Dinges Triangel.
2) anders formuliert: Gott ist das allerrealste Wesen.
Ist: Dieses Ding existiert: ein analytischer oder synthetischer Satz? Analytisch! Er fügt dem Begriff Gott nichts hinzu. Gott bleibt nichts als ein möglicher Gedanke.

Der kosmologische Gottesbeweis

a) Bewegungsbeweis des Aristoteles: alles Bewegte wird von etwas anderem bewegt bis zum ersten Beweger: Gott. b) als Kausalbeweis: Vom Dasein Gottes wird auf die Welt geschlossen: Butter schmilzt-Wärme im Zimmer-Temperatur draußen. Nichts kann eine Absolutheit zugesprochen werden. Also muss am Ende der Kausalkette etwas Unbedingtes, eine schlechthin notwendige Ursache stehen.
Kant: Das absolut Notwendige muss, wenn schon nichts Empirisches absolut notwendig ist, muss außerhalb der Welt angenommen werden. Eine Kausalität ist aber nur für die Sinnenwelt sinnvoll, außerhalb nicht beweisbar und entspringt dem Bedürfnis der Vernunft.

Der teleologische Gottesbeweis

gr. Telos=der Zweck, das Ziel: Lehre von der Zweck-mäßigkeit und Zielgerichtetheit. Nach Kant der älteste und klarste Beweis: In der Natur waltet eine Ordnung und Zweckmäßigkeit: Bäche fließen nach unten, Insekten dienen Vögeln als Nahrung. Von dieser Ordnung wird auf einen Urheber, einen vollständigen Zweck geschlossen. Kant: setzt man die Kette fort, würde das höchste Wesen in der Kette dieser Bedingungen stehen, wäre selbst bedingt (das Paradoxon der Diskussion zwischen Gott und dem Teufel basiert darauf). Der Beweis könnte also höchstes zu einem Weltbaumeister, der durch die Tauglichkeit seines Stoffes immer sehr eingeschränkt sein, aber nicht zu einem Weltschöpfer, dessen Idee alles unterworfen ist führen.

Gott: das transzendentale Ideal

Nachdem Kant durch die 4 Antinomien aufgezeigt hat, dass sich der Verstand bei Aussagen über reine Vernunftbegriffe in Widersprüche verwickelt, wird klar, dass er sich beim höchsten dieser Ideale, Gott, genauso aufs geistige Glatteis begibt. Gott bleibt ein fehlerfreies Ideal, ein Begriff, welcher die ganze menschliche Erkenntnis schließt und krönt, dessen objektive Realität zwar nicht bewiesen aber, aber auch nicht widerlegt werden kann.

Somit hat Kant 500 Jahre nach Thomas von Aquin dessen Versuche, die Existenz Gottes zu beweisen, widerlegt und 100 Jahre vor Ludwig Feuerbach die Unmöglichkeit aufgezeigt, die Nicht-Existenz Gottes beweisen zu können. (Kant für Anfänger, Die Kritik der reinen Vernunft, Ralf Ludwig, München, 13.A.2008, DTV)

Grenzen der Erkenntnis

Die Grenzen der Erkenntnis werden mit einem poetischen Beispiel anschaulich gemacht: Das Meer und die Insel.

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Landschaften im Nebel. Meteora, Griechenland, 1986, Foto Robert Seidemann

Nachdem Kant aufgezeigt hat, wie Erkenntnis möglich ist, wendet er sich den Bereichen zu, an denen unsere Erkenntnis an Grenzen stößt. Sie zu überschreiten ist unserem Verstand nicht möglich, er gerät dabei auf Abwege. Um dies zu verdeutlichen, benutzt Kant die geradezu poetische Schilderung von den Inseln im Meer einer Landschaft im Nebel.

„Der transzendentalen Doktrin der Urteilskraft  (Analytik der Grundsätze) Drittes Hauptstück
Von dem Grunde der Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phaenomena und Noumena

Wir haben jetzt das Land des reinen Verstandes nicht allein durchreist, und jeden Teil davon sorgfältig in Augenschein genommen, sondern es auch durchmessen, und jedem Dinge auf demselben seine Stelle bestimmt. Dieses Land aber ist eine Insel, und durch die Natur selbst in unveränderliche Grenzen eingeschlossen. Es ist das Land der Wahrheit (ein reizender Name), umgeben von einem weiten und stürmischen Ozeane, dem eigentlichen Sitze des Scheins, wo manche Nebelbank, und manches bald wegschmelzende Eis neue Länder lügt, und indem es den auf Entdeckungen herumschwärmenden Seefahrer unaufhörlich mit leeren Hoffnungen täuscht, ihn in Abenteuer verflechtet, von denen er niemals ablassen und sie doch auch niemals zu Ende bringen kann. Ehe wir uns aber auf dieses Meer wagen, um es nach allen Breiten zu durchsuchen, und gewiß zu werden, ob etwas in ihnen zu hoffen sei, so wird es nützlich sein, zuvor noch einen Blick auf die Karte des Landes zu werfen, das wir eben verlassen wollen, und erstlich zu fragen, ob wir mit dem, was es in sich enthält, nicht allenfalls zufrieden sein könnten, oder auch aus Not zufrieden sein müssen, wenn es sonst überall keinen Boden gibt, auf dem wir uns anbauen könnten; zweitens, unter welchem Titel wir denn selbst dieses Land besitzen, und uns wider alle feindseligen Ansprüche gesichert halten können. Obschon wir diese Fragen in dem Lauf der Analytik schon hinreichend beantwortet haben, so kann doch ein summarischer Überschlag ihrer Auflösungen die Überzeugung dadurch verstärken, daß er die Momente derselben in einem Punkt vereinigt.“

 Vom Verstand zur Vernunft

Das Meer und die Insel: Unser Verstand kann Wahrnehmung, Schema und Kategorien nur anwenden um die Erscheinungen der Insel zu erkennen. Die Instrumente taugen nicht für die Nebelbänke und schmelzenden Eisberge im Meer des Scheins. Die Welt der Ideen. Das Denken im Bereich der Ideen erfolgt notwendig unter Verzicht auf Anschauung und Begriffe und führt dadurch unvermeidlich zu Fehlschlüssen. Mit den Fehlschlüssen betritt man den schwankenden Boden der transzendentalen Dialektik. Wer einmal selbst das Phänomen Küstennebel erlebt hat oder in dichte Wolken gehüllt eine Skipiste hinabgefahren ist, kann sich das gut vorstellen. Der Verstand begibt sich auf eine Art Blindflug.

Die Insel = Welt des Phaenomenons (das Erscheinende) 

Der Ozean = Die Welt des Noumenons (das Gedachte) „von negativem gebrauch“

Die transzendentale Dialektik:  „dialegomai“ ich unterhalte mich. Platonische Dialoge des Sokrates. Methode von Rede und Widerspruch. Für Kant die Logik des Scheins: Ideen verwickeln sich in Widerspruch. Die Welt der Vernunft. Die Vernunft macht mit dem Verstand dasselbe, was der Verstand mit den Anschauungen macht. Während der Verstand die Mannigfaltigkeit der Anschauungen ordnet, ordnet die Vernunft die Regeln des Verstandes. (Ab S.236)

Mensch: Zu den Bedingungen, denen der Mensch unterworfen ist, muss es etwas Unbedingtes, Absolutes, als Einheit dieser Bedingungen geben: Unsterblichkeit der Seele. (Psychologie)

Freiheit: Zu den Bedingungen, denen die Welt als Bedingung aller Erscheinungen unterworfen ist, muss es etwas Unbedingtes als Einheit dieser Bedingungen geben: Freiheit. (Kosmologie)

Gott: Zu allen Bedingungen schlechthin, denen alles Denken und alles Gedachte unterworfen ist,
muss es etwas Unbedingtes als Einheit dieser Bedingungen geben: Gott. (Theologie)

Die Entlarvung der transzendentalen Dialektik, 2.Buch:
zu den Bedingungen, denen Mensch, Welt und Gedachtes unterworfen ist, muss es etwas Unbedingtes als Einheit dieser Bedingungen geben. Sind die Bedingungen gegeben, wird auch das Unbedingte gegeben sein. Seele, Welt und Gott werden als erkennbare Gegenstände der Betrachtung behandelt. Die berühmten Fehlschlüsse sind die Folge.

Abhandlung durch Paralogismen (Fehlschlüsse), Antinomien (Widersprüchlichkeit) und das transzendentale Ideal.

Seele: Paralogismen Das Cogito ergo sum ist Ursprung aller Kategorien aber ist nicht aus der Anschauung ableitbar. Die transzendentale Einheit des Bewusstseins ist eine formale Einheit im Denken. Der dialektische Schein entsteht durch die Verdinglichung des „Ich denke“. Somit hat die Seele kein Dasein, aber sie hat auch kein Nichtsein. Sie bleibt eine unverzichtbare transzendentale Idee.

Welt: Antinomien: Widersprüche, die gleichzeitig bestehen und beide richtig sind. Der Mensch ist frei/ist nicht frei. Freiheit und Gebundenheit stehen im Gegensatz, sind aber für das Verständnis vom Mensch notwendig. Gott ist ein verborgener/offenbarter Gott. Ein verborgener führt zur Sprachlosigkeit, ein Offenbarter zu selbstherrlichem Bescheid-Wissen über ihn. „Es ist das tragische Schicksal der Vernunft sich dort in Widersprüche zu verwickeln, wo sie einen Anspruch auf Absolutheit anmeldet.“

1. Antinomie:

Thesis: Die Welt hat einen Anfang in der Zeit und ist dem Raum nach in Grenzen eingeschlossen.

a) Die Welt hat einen Anfang in der Zeit: Hätte sie keinen Anfang in der Zeit, müsste eine unendliche Zeitreihe vorausgesetzt werden. Bis zum jetzigen Zeitpunkt wäre also eine Ewigkeit abgelaufen. Eine verflossene Zeitreihe kann aber nur endlich sein und niemals unendlich.

b) Die Welt hat einen Anfang im Raum, sie ist in Grenzen eingeschlossen: Hätte sie keine Grenzen, wäre sie ein unendliches Ganzes. Dies ist aber nicht möglich, da dann diese Unendlichkeit in einer endlichen Zeitreihe gesehen werden müsste.

Anthithesis:

2.Antinomie:

Thesis: Eine jede Sache in der Welt besteht aus einfachen Teilen, und es existiert überall nichts als das Einfache, oder das, was aus diesen zusammengesetzt ist. (Ist die Seele von gleicher Teilbarkeit und Verweslichkeit wie die Materie?) Beweis: Gäbe es kein aus einfachen Teilen zusammengesetztes, würde nichts bleiben, weder ein Zusammengesetztes noch ein einfaches Teil. Fatale Folge: es gäbe gar keine Substanz

Antithesis: Kein zusammengesetztes Ding in der Welt besteht aus einachen Teilen, und es existiert überall nichts Einfaches in derselben. Beweis: Gäbe es ein Zusammengesetztes aus einfachen Teilen, müsste jedes Teil einen eigenen Raum einnehmen und es Teile vom Raum geben. Alles Reale abe im Raum schließt Mannigfaltiges in sich ein und kann deshalb nicht einfach sein.

3.Antinomie:

Thesis: Die Kausalität nach Gesetzten der Natur ist nicht die Einzige, aus welcher die Erscheinungen der Welt abgeleitet werden können. Es ist noch eine Kausalität durch Freiheit zur Erklärung derselben anzunehmen notwendig. Beweis: Gäbe es keine Freiheit, etwas neu anzufangen, würde alles einen vorigen Zustand voraussetzen. Jede Kausalität würde eine andere Kausalitätskette voraussetzen. Da in der Natur nie etwas ohne Ursache passiert, gäbe es keinen ersten Anfang. Ohne Anfang aber wäre jede Reihe unvollständig. So widerspricht der Satz von der Naturgesetzlichkeit wegen seiner unbeschränkten Allgemeingültigkeit sich selber. Es muss etwas geben, das es mir ermöglicht etwas Neues anzufangen: absolute Spontaneität der Ursachen oder tr.Freiheit

Antithesis: Es gibt keine Freiheit in der Welt, sondern alles geschieht nach den Gesetzen der Natur

Beweis: Gäbe es Freiheit, würde nicht nur eine Reihe durch Spontaneität anfangen, sondern auch die Kausalität würde anfangen. Somit ginge nichts vorher, wodurch Geschehenes durch Gesetze bestimmt sei. Aber ein jeder Anfang setzt einen Zustand der noch nicht handelenden Ursache voraus. Somit hätte ein erster Anfang einen Zustand vorausgesetzt, der mit dem vorhergehenden in keinem Zusammenhang steht. Was aber in keinem gesetzlichen Zusammenhang steht, kann nicht erkannt werden, es ist ein leeres Gedankending.
Ergo: Es müssen Freiheit und Kausalität zugleich stadtfinden können!

4.Antinomie:

Thesis: Zu der Welt gehört etwas, das entweder als ihr Teil, oder ihre Ursache, ein schlechthin notwendiges Wesen ist. Unsere Welt basiert auf Veränderungen. Jede davon beruht auf einer Bedingung, die notwendig ist. Die Reihe setzt etwas schlechthin Notwendiges voraus, das absolut notwendig ist. Dieses gehört aber zu dieser Welt.

Antithesis: Es existiert überall kein schlechthin notwendiges Wesen, weder in der Welt, noch außer ihr, als ihre Ursache. Gäbe es dieses Wesen, wäre in der Welt ein Anfang, der als Notwendigkeit keine Ursache haben dürfte. Nach den Gesetzten der Natur unmöglich.

Das Erkenntnismodell nach Kant

Durch Anschauung, Begriff und Urteil wird uns die Wirklichkeit gegeben.

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Meteora Klöster, Griechenland, Foto: Robert Seidemann 1986

Die  Frage, die Kant in seiner ersten Kritik untersucht, ist die Art und Weise, wie wir die Wirklichkeit erkennen. Er entwirft dazu ein Modell, das sich gut mit den jüngsten Forschungsergebnissen der Neurophysiologen deckt. In seiner Arbeit benutzt er eine Reihe von Begriffen, die für er seinem Modell zugrunde gelegt hat und die für ein Verständnis unabdingbar sind. Ich habe hier einige davon als Liste zusammen-gestellt: Ausdruck Begriffe zu Kritik der reinen Vernunft. Bei seiner Betrachtung  ist er  darauf aus, die dieser Erkenntnis zu Grunde liegenden Aspekte herauszuarbeiten. Dazu muss alles weg, was aus der Erfahrung stammt. Dieses Wissen ist zufällig und personenbezogen, taugt also nichts für fundamentale Erklärungen. Es entwickelt sich ein Erkenntnismodell, wo Begriffe aus dem Verstand und die Erfassung der Wirklichkeit über unsere fünf Sinne sich gegenseitig durchdringen. Jeweils für sich allein können sie nichts bewirken: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind“. (Die Kritiken, Zweitausendeins Verlag, 2008, S.134). Damit erklärt sich, warum der Ire 60 Arten von Grün kennt, ein Geologe beim Spaziergang endlose Details aufzeigt, wo ein Laie nur graue Felsen sieht und warum neue Erkenntnistechniken wie die Optik oder die Weltraumfahrt unser Weltbild so stark prägen, dass wir von der Erde heute eine Vorstellung als blauer Kugel haben. Frühere Generationen haben Begriffe wie Scheiben und Sphären verwendet. Hier nun in kurzen Zügen die Grundpfeiler des kantschen Modells zu Erkenntnis und Urteilsbildung mit einigen Beispielen:

1 Transzendentale Ästhetik

Innerhalb der Sinnlichkeit ordnen Raum und Zeit alle Empfindungen: Gegenstände werden uns gegeben.

2 Transzendentale Logik

Der Verstand formt die geordneten Empfindungen und erhebt sie zu Begriffen. Gegenstände werden gedacht.

3 Transzendentale Analytik

Begriffe werden vom Verstand zu Urteilen verknüpft. (Im Prinzip ist Begriffsbildung auch schon ein Urteil, Unterabteilung von 2). Ordnungsfaktoren dieser verknüpfenden Tätigkeit nennt er transzendentale Grundbegriffe oder Kategorien:

I.                    Quantität: Allgemeine – Besondere – Einzelne

II.                  Qualität: Bejahende – Verneinende – Unendliche

III.                Relation: Kategorische – Hyphotetische – Disjunktive

IV.                Modalität: Problematische – Assertorische – Apodiktische

Einzelurteil: Sam ist Amerikaner

Besonderes: Einige Tiere sind Beuteltiere

Allgemeines: Alle Menschen sind sterblich

Bejahendes: Der Dom von Florenz ist hoch

Verneinendes: Die Uffizien sind nicht hoch

Unendliches: Jenes Haus am Arno ist kein Dom (könnte sonstwas sein: Wohnhaus, Krankenhaus…)

Kategorisches: Das Dreieck hat drei Seiten. Der Kreis ist rund. Unbedingtes Urteil

Hypothetisches: Wenn die Sonne scheint, schmilzt die Butter

Disjunktives: Der Hund ist entweder ein Schäferhund oder ein Dackel

Problematisches: Es könnte heute Schnee fallen (vermutendes)

Assertorsiches: Es wird heute schneien (behauptendes Urteil)

Apodiktisches: Ich muss eines Tages sterben

Wie kann sich nun etwas, das jenseits meiner Verfügbarkeit und Begreiflichkeit ist, auf mich beziehen?  Durch die transzendentale Deduktion. Mein Verstand formt den Begriff Katze. Subsumierung der Anschauung unter die Kategorie, die Allheit Tier mit Pfoten. Gibt es nun Kategorien, weil es Gegenstände gibt, oder gibt es Gegenstände, weil es Kategorien gibt? Hier im Beispiel: Die Kategorie der Einheit produziert die Anschauung des Fellwesens. Alternativ die Kategorie der Relation: Die Butter auf dem Tisch schmilzt, weil die Sonne scheint. Die sinnliche Erfahrung nimmt die Sonne wahr und sieht die Verflüssigung der Butter. Das Kausalprinzip stammt aus dem Verstand. Es gilt notwendig und allgemein (a priori) für alle Erfahrung.
Der Verstand prägt wie ein Stempel die Kategorie der Kausalität in das Rohmaterial der sinnlichen Wahrnehmung und findet diese in der Wahrnehmung wieder.

Objektiv: Einschaltung des „Ich denke“ für die Erkenntnis.

Wichtiger Aspekt in der Urteilskraft: Das subjektive “ich denke“ ist die objektive Bedingung für das Erkennen von Objekten. Das erkannte Objekt ist nichts anderes als das Produkt der einigenden Tätigkeit des „Ich denke“, das sich der reinen Denkformen, der Kategorien, bedient, ja sogar ihnen noch vorgeschaltet ist. Verstand ist das Vermögen der Erkenntnisse.

Bsp: § zum Mord im StGb.: die objektive Gültigkeit muss durch die subjektive Beurteilung von Richtern usw. geklärt werden.

§22 Die Kategorie hat keinen anderen Gebrauch zum Erkenntnisse der Dinge, als ihre Anwendung auf Gegenstände der Erfahrung. Gesetzte existieren nicht in den Erscheinungen, sondern in deren Bezug auf das Subjekt.

Über die ästhetische Erfahrung schöner Landschaft als Heimat

Über die Bedeutung der schönen Landschaft für ein gutes Leben.

Prof. Angelika Krebs vom Philosophischen Seminar der Universität Basel stellte ein Gedicht an den Anfang ihres Vortrags am 5.11.2014, der im Rahmen der Philosophische Wintervorträge 14/15 des Philosophischen Seminars der Georg-August Universität Göttingen stattfand.

„Und was da war, es nahm uns an, verloren ging, was streifte noch als Lächeln bald die Frage, ob, denn wo sie war, so nah verzweigt, war Früchten gleich, die reiften, fiel, was schön war, groß, was ungetrübt, es war ein Weg, ein Duft, und was durchs Laub als Luftzug fuhr, das war ein Sehen, war wie Wut, erinnert schon als Lust und schau, wie standen wir am See im Licht, da voll die Dolden, da der Tag uns fast umfing, mit Armen, die wie trunken noch erblühten dann und sanken, süß und mild“

Michael Donhauser, Variationen in Prosa, Berlin, Matthes&Seitz 2013, S.7

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Abendstimmung am Bodensee

Die gütige Stimmung am See ist ein nicht ersetzbarer Teil eines guten menschlichen Lebens. Sie ist nicht optional sondern fundamental. Natur kann nicht lediglich instrumentell als Ressource verstanden werden, die schöne Natur hat unter dem Aspekt eines Ich-Du Verhältnisses einen Eigenwert. Wir brauchen die schöne Natur, um gut zu leben. Die Natur hat dadurch einen moralischen Wert. Weiterlesen „Über die ästhetische Erfahrung schöner Landschaft als Heimat“