Julieta alias Juliet

Nachdem die Aufführung während des europäischen Filmfestes im November bis auf den letzten Platz ausverkauft war, kamen nur drei Monate später deutlich weniger Zuschauer in unser Programmkino. Ich hatte die Wartezeit nach dem vergeblichen ersten Anlauf bis zur sich erwartungsgemäß kurzfristig ergebenden second chance genutzt und an Weihnachten den Erzählband „Tricks“ von Alice Munro ausgeliehen, in den Tagen vor dem Kinobesuch die Geschichte „Entscheidung“ angefangen und just am Vorabend der Filmaufführung beendet. Es ergab sich der verblüffende Effekt, dass ich den Film wie ein déjà vu erlebt habe. Gleich zu Beginn trifft Julieta ganz zufällig ihre alte Freundin Heather (bei Munro), die ihrerseits ganz zufällig in der entfernten Schweiz (bei Aldomóvar) Julietas seit so vielen Jahren mit unbekanntem Ziel und ohne Angabe näherer Gründe entschwunden Tochter getroffen hat. Damit ging just am Vorabend die Erzählung zu Ende und ich bin mitten drin im bunten Geschehen, das nun in der Rückblende abläuft. Die Personen haben im Film andere Namen, aus dem Fischer Eric ist der galizische Xoan (x=sch) geworden und so geht es fort. Aus dem nachts im Schnee auftauchenden Wolf (bei Munro) wird ein beeindruckender Hirsch, der in seinem brünftigen Galopp die Natur als Paralellwelt zum menschlichen Treiben noch besser verdeutlicht. Er kann uns nicht sehen, erklärt Juliet, er hat die Witterung eines Weibchens aufgenommen. Parallel dazu nimmt Xoan ihre Witterung auf mit durchaus vergleichbarem Ergebnis.

Kann das auf die Dauer gutgehen? Die meisten Literaturverfilmungen sind mir ein Greul, alles was den Text besonders und das Lesererlebnis einzigartig macht, fällt einem Bilderrausch zum Opfer und die Charaktere sind mit den stets gleichen Schauspielern aus dem heiligen Wald besetzt. Hier aber ist es ein wunderbares Spiel mit Orten und Personen, alles bleibt authentisch, man erlebt z.B. die Galizier mitsamt dem Regen und einem brutal heranrauschenden Atlantik. Dabei kommen wie so oft bei Aldomóvar die Frauen besonders groß raus. Da die Geschichte im Rückblick abläuft, teilen sich Emma Suarez und Adriana Ugarte die Lebenszeit von Juliet alias Julieta. Das ist gut gelungen und bis in die Details von Familienfotos umgesetzt, wo die ältere Julieta im heimischen Regal das Foto der jungen Frau mit Ihrem Fischermann stehen hat. Frisör Berbel hat am Set gute Arbeit geleistet. Der blaue Pullover bei Julietas Bahnfahrt kontrastiert die eindrucksvoll struppig blonde Frisur und hinterlässt einen nachhaltigen Eindruck von Schönheit. Pedro hat meiner Meinung nach die Geschichte in einigen Punkten eher noch vertieft, lässt bei Julieta die Zweifel, Schuldgefühle und Hoffnungen sehr offensichtlich werden. „Deseo“ heißt die Produktionsfirma der Gebrüder Aldomóvar, deren Lettern den Film einleiten und was das Leitmotiv ihres Schaffens ist. Bei diesem Hoffen und Sehnen bleibt es bis zur letzten Minute und so endet auch die Erzählung: „Sie hofft weiter auf ein Wort von Penelope, aber nicht sehnlich oder gar inständig. Sie hofft wie Menschen, die wider besseres Wissen hoffen, auf einen unverdienten Glücksfall, auf spontanen Straferlass, auf derlei Dinge.“

Die Haut, in der ich wohne

Dr. Robert Legard, ein berühmter Arzt für plastische Chirurgie, wird, angetrieben durch den tragischen Unfalltod seiner geliebten Frau, zum Erfinder einer neuen, gentechnisch hergestellten Haut, die viel besser ist als menschliche Haut: sie ist feuerbeständig und stichfest. Bei den Familienbeziehungen könnte es kaum wilder zugehen als hier: dass die Mutter-Sohn und die Vater-Tochter Beziehungen vollkommen überdreht sind, verblüfft nicht weiter, wenn man schon ein Paar Aldomóvar Filme gesehen hat. Die Geschichte wird in Vor- und Rückgriffen erzählt, man erfährt sie häppchenweise. Das ist auch der Erzählstiel von Alice Munro. Von dieser liegt denn auch gleich zu Beginn deutlich sichtbar ein Buch auf dem Frühstückstablett für die einzige Patientin: Alice Munro, Escapada . Originaltitel: Runaway. Deutscher Titel: Tricks. Mehr auf wikipedia  und wordpress. Es umfasst mehrere Geschichten über die Liebe von Frauen unterschiedlichen Alters. Ein Happy End gibt es wie bei Aldomóvar und meistens im richtigen Leben eher nicht. Letztlich zieht ein junger Mann den Hass von Robert Legard (Frankenstein) auf sich. Er wird wie bei einer Safari mit einem Spritzenschuss lebend gefangen genommen und im Anwesen des Doktors eingesperrt. Robert bringt seine ganze Kunst zum Einsatz: Es beginnt mit der Entfernung der primären Geschlechtsorgane, an Stelle des Penis gibt es eine Vagina. Die muss der Patient unter Schmerzen mit unterschiedlich großen Dildos schrittweise ausweiten. Nun folgt peu a peu der Rest des Körpers: das Gesicht kommt neu und  wird entsprechend der verstorbenen Ehefrau gestaltet, ein passender Busen rundet das Bild ab: es entsteht ein neugeschaffener, weiblicher Körper von makelloser Schönheit. Robert hat seine Technik an einem Meerschweinchen ausprobiert, das einstmals ein Junge war. Bei den diversen Kapriolen gibt es einen Zwiekampf mit dem „Schöpfer“, bei dem sich das Opfer die Kehle mit dem Messer durchtrennt. Wie in Buñuels Szene mit dem Skalpellschnitt durchs Auge einer Frau („Ein andalusischer Hund“ Originaltitel: Un chien andalou von Luis Buñuel und Salvador Dalí, auch die Tafeln mit den Zeitansagen sind ein Anklang an diesen Film) kann man es langsam nicht mehr ertragen auch nur noch hinzusehen. Robert trägt den schlaffen Körper des androgynen Mädchens in seinen OP und näht den Hals wieder zusammen. Der coolste Satz im Film fällt beim letzten Nadelstich: Da hatten wir nochmal Glück! („Tenemos suerte“, wenn ichs recht verstanden habe). Das Martyrium kann weitergehen. Die Verwendung der ihm angebotenen Schminkutensilien erträgt er/sie nicht und verwendet die Stifte zum Beschreiben der Zimmerwand. Neben den Knastbalken zum Tagezählen steht da immer wieder: respiro. Ich atme, also bin ich. Ein liegender Körper wird gezeichnet: Der Kopf steckt in einer Hundehütte. Mein argentinischer Psychiater hätte seine wahre Freude an der Wand, die sich langsam füllt. Letzten Endes entkommt das neu entstandene Wesen seinem Peiniger und kann zur Boutique der Mutter zurückkehren. Niemand erkennt ihn. Erst als er Szenen aus der Vergangenheit schildert, die nur mit ihm als jungem Mann in Verbindung stehen, merkt die Verkäuferin, was passiert sein muss. Aldomóvar thematisiert in seinem Film die gentechnische Veränderung menschlicher Zellen, die Transgender Problematik und wenn man dieses Thema weiterentwickeln möchte, die Leib-Seele Probematik. Aristoteles stellte sich das Herz als Sitz der Seele und Träger der Identität vor. Im Film  erkennt der Gefangene, dass Yoga den direkten Weg zum Kern der Persönlichkeit weist. Er verlangt nach einem Buch über Yoga und verbringt die Zeit mit teils akrobatischen Übungen. Als er zum Schluss im Laden seiner Mutter seine wahre Identität eröffnet, ist es seine Seele als Sohn, die spricht. Als weibliches Wesen ist er zwar äußerlich vollkommen, der Verkäuferin im Laden seiner Mutter gegenüber existiert er aber nur als der Junge, der er einmal war. Sein Fortleben als Verkäuferin Vera in dieser Boutique mag ich mir nicht vorstellen, obwohl die Geschichte natürlich genau darauf hinausläuft. Immerhin sind die Kleider dort hübsch und wahrscheinlich alle von Jean-Paul Gaultier. Großartig ist die Musik von Alberto Iglesias und endlich kann ich die unvergleichliche Sängerin Concha Buika bei zwei Auftritten sehen: Ein Fest für die Ohren, die Augen und das Herz. Danke Pedro!

Offizielle Seite des Films La Piel que Habito

und das sagt der Drehbuchschreiber und director selbst dazu: „Hay procesos irreversibles, caminos sin retorno, viajes sólo de ida. “La piel que habito” cuenta la historia de uno de estos procesos. La protagonista recorre involuntariamente uno de esos caminos, es obligada violentamente a emprender un viaje del que no puede regresar. Su kafkiana historia corresponde al dictado de una condena cuyo jurado está compuesto por una sola persona, su peor enemigo. El veredicto, por lo tanto, no es sino una forma de venganza extrema.“ zitiert von der website des Films s.o.