Beseelte Wesen

Für Aristoteles sind Körper und Seele eine Einheit, zwei unterschiedliche Betrachtungsweisen desselben Gegenstands. Damit bezieht er eine Gegenposition zu Platon. Gegenüber dem Körper versteht er die Seele als Vermögen von und in Körpern: sie können Nahrung aufnehmen, sich vermehren, rumrennen oder ein Buch lesen. Von einem Wesen mit Seele sprechen bedeutet also über Lebendiges zu sprechen (vgl. Ackrill 85 ff.). Auf seinen Grundgedanken baut er eine Hierarchie des Begriffs auf, wobei jede hinzukommende Ebene die darunter befindliche beinhaltet.

Planzenseele – vegetative Seele

Nahrung, Wachstum, Fortpflanzung

Tierseele – animalische Seele

Nahrung, Wachstum, Fortpflanzung
+ Wahrnehmung, Bewegung, Tastvermögen, 5 Sinne, Streben nach Wohlsein, Tiere empfinden Lust, vermeiden aktiv Schmerzen. Sie verfügen über ein Gehirn und Verstand.

Geistseele – humane Seele

Nahrung, Wachstum, Fortpflanzung, Wahrnehmung, Bewegung, Tastvermögen, 5 Sinne, Streben nach Wohlsein, Menschen empfinden Lust, vermeiden aktiv Schmerzen. Sie verfügen über ein Gehirn und Verstand
+ Geist (nou) der sich in einen sterblichen, untrennbar mit dem Körper verbundenen Teil und einen vom Körper unabhängigen, unpersönlichen Teil aufteilt. (vgl. Höffe, S. 140 f.)

An dieser Hierarchie ist zunächst bemerkenswert, dass sie allen belebten Wesen eine Seele zuspricht. Der Mensch verfügt wohl über zusätzliche Eigenschaften und Ausprägungen, aber er hat eine gemeinsame Basis mit der belebten Natur. Die Abgrenzung zur unbelebten Welt ist mit heutigem Wissen formuliert diejenige zwischen Physik und Chemie und Biologie: die Gegenstände der biologischen Untersuchung weisen einen der Evolution unterworfenen Vererbungsprozess auf, der über ein DNA Alphabet mit 4 Buchstaben gesteuert wird. Handelt es sich um Pflanzen, so fehlen ihnen die 5 Sinne zur Wahrnehmung und ein Gehirn zur Interpretation dieser Wahrnehmung. Das Tier hat sie und kann auf diesem Weg gesunde und bekömmliche Nahrung suchen (ein schönes Beispiel von Aristoteles) und andere meiden, sich entsprechend seiner Bedürfnisse und Anforderungen in der Welt zu bewegen. Verdeutlicht man den Schritt von der Pflanze zum Tier, dann hat das Tier ein Gehirn und die Pflanze nicht.  Ein gutes Beispiel für diese Unterscheidung ist die Seescheide . Die Jugendform ist eine Larve mit Sinnesorgan und Gehirn, die sich im Meer bewegt. Hat sie erst einmal einen festen Platz am Meeresboden oder einem Schiffsrumpf eingenommen, entwickelt sich das Gehirn zurück und sie lebt wir alle anderen Pflanzen auch, filtert das Wasser zur Nahrungsgewinnung. (vgl. Peter Thier, FAZ, 10.12.14, N&W, S.N.2). Kombiniert man die heutigen wissenschaftlichen Erkenntnisse im Hinblick auf die Vererbung (vgl. Stefan Bleecken, Die Seelenlehre des Aristoteles im Lichte der modernen Wissenschaft), dann sehen die Stufen etwa so aus:

Planzenseele – vegetative Seele

Zellen, DNA, Vererbung und evolutionäre Entwicklung und Auslöschung von Arten, Wachstum, Nahrungsaufnahme, Stoffwechsel.

Tierseele – animalische Seele

Zellen, DNA, Vererbung und evolutionäre Entwicklung und Auslöschung von Arten, darüber hinaus umfangreiche Vererbung von Nervenzellen, in denen zusätzlich zur DNA weitere Informationen gespeichert sind, auf die das Lebewesen zugreift und das es durch Lernen ausbaut. Dies sind die als Instinkt umschriebenen Verhaltensweisen und von den Vorfahren intensive erlebte oder prägende Eindrücke. Niemand kann sich so roten Früchten als Sinnbild reifer, süßer Frucht oder der Faszination des Anblicks von Feuer entziehen und fühlt sich an einem Platz am Feuer wohl und geborgen, nachdem unsere Ahnen dieses Erlebnis während einer 2 Mio. Jahre dauernden Evolution immer wieder als ungemein positiv erlebt haben.

Geistseele – humane Seele

Von genetischen Prozessen angetrieben und von angeborenen Informationen im Gehirn begleitet beginnt der Mensch sein Leben. In seinem Gehirn prägen weitere informationsverarbeitende Prozesse sein Leben: Sein Denken verwendet Begriffe und Urteile, arbeitet mit Kategorien, gliedert die Wahrnehmungen nach Raum und Zeit und setzt sinnvolle Zusammenhänge zwischen seine Beobachtungen. So kann er sich besonders gut in der Welt orientieren, Gefahren vermeiden, vielfältige Nahrung finden, sich zahlreich vermehren und Vergnügen aller Art verschaffen. Neben der Weitergabe von DNA und im Gehirn abgespeicherter Information gibt er Information in Form von Texten, Bildern oder Musik weiter: der sozusagen unabhängig vom Körper weitergereichte Teil des Geistes, während der Teil mit den individuellen Erfahrungen stirbt.

Quellen:

John L. Ackrill, Oxford Berlin New York 1983, Aristoteles

Ottfried Höffe, München 2006, Aristoteles

Stefan Bleecken, Die Seelenlehre des Aristoteles im Lichte der modernen Wissenschaft,

Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken, Ausgabe 28, April 2007

Peter Thier, Frankfurter Allgemeine Zeitung 10.12.14, Natur & Wissenschaft, S.N.2