Hermes Trismegistos alias Melchíades der Alchemist

Die Alchemie spielt eine zentrale Rolle in 100 Jahre Einsamkeit. Wie ein Rahmen liegt sie als Meta-Geschichte über der eigentlichen Erzählung. Wie bei Alchemisten üblich, ist die Metageschichte in einer Geheimsprache verfasst und erschließt sich nur dem eingeweihten Adepten. Dieser muss aus eigenem Antrieb Rätsel um Rätsel lösen, um zur Erleuchtung zu gelangen. Das Ganze geht stufenlos ins esoterisch oder religiöse über. Zentrale Figur im alchemistischen Spiel ist dabei zunächst Melchíades. Er prägt den Roman wie kaum eine zweite Figur. Er ist auf von der ersten Seite an präsent und auf den letzten Seiten liest Aureliano postum aus seinen Aufzeichnungen. Diese sind nichts weniger als die Geschichte des Romans und seiner Figuren in verschlüsselter Form. Der letzte der Sippe Buendía kann es deshalb bei der Lektüre kaum erwarten, ans Ende der Aufueichnungen zu gelangen: ihn erwartet die Lektüre seines eigenen Schicksals!

Der alte Ziegeuner Melchíades wird mit den Attributen von Hermes Trismegistos beschrieben und ähnelt dessen Darstellung auf alten Kupferstichen : “corpulento, de barba montaraz y manos de gorrión”(Kapitel 1, pdf S.3) und “con el sombrero de alas de cuervo, como la materialización de un recuerdo que estaba en su memoria desde mucho antes de nacer.”(Kapitel XVIII, pdf S.147) Er gleicht dem Gott aus der Familie des Zeusclans mit dem geflügelten Helm.

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Kupferstich aus Michael Maier, Symbola aurea mensae, Frankfurt a.M. 1617

„Die Götter-Gestalt des Hermes Trismegistos (griechisch Ἑρμῆς Τρισμέγιστος für „dreimal größter Hermes“) ist eine synkretistische Verschmelzung des griechischen Gottes Hermes mit dem ägyptischen Gott Thot. Bis in die frühe Neuzeit glaubte man, Hermes Trismegistos hätte tatsächlich gelebt und wäre der Verfasser der nach ihm benannten hermetischen Schriften.“ „Namengebend für Hermes waren ursprünglich als Wegmarken für Reisende dienende Steinhaufen, später Stelen mit einem Kopf und einem erigierten Phallus, eben die sogenannten Hermen. Hermes war der Gott der Reisenden, Hirten, Kaufleute und Diebe, Bote des Zeus und Totenbegleiter.“ Wikipedia

Als Reisender hat er die entferntesten Orte der Welt durchstreift: “Sobrevivió a la pelagra en Persia, al escorbuto en el archipiélago de Malasia, a la lepra en Alejandría, al beriberi en el Japón, a la peste bubónica en Madagascar, al terremoto de Sicilia y a un naufragio multitudinario en el estrecho de Magallanes.” (pdf S.5)

Als Kaufmann bzw. Merkantilist (D), mercenaire (F), mercader (S) ist er ein Nachfahre von Merkur, der römischen Variante des Hermes. Seine Anpreisungen der neuesten Erfindungen sind unschlagbar, man kauft ihm gerne alles ab. Seit den Tagen des Quellekatalogs freuen wir uns auf die Ankunft unserer Päckchen durch den Hemes Versand. Auf den antiken Statuen wird der Götterbote stets mit dem geflügelten Helm dargestellt, der besagten Kappe mit den Lederklappen im Roman, bei deren Anblick in Aurelianos Vorstellung Bilder auftauchen, die weit vor seine Zeit zurückreichen: nämlich über das alte Rom und das antike Griechenland bis ins Reich der Pharaonen

Interessant ist die Bedeutung des Hermes Urtyps Thot in der ägyptischen Mythologie. „Thot war der Gott des Mondes, der Astronomie bzw. Astrologie, der Magie und Medizin. Seit ca. 1500 v.Chr. erscheint er als der Gott der Weisheit, der Sprache, des Schreibens und als Schöpfer der Gesetze von Himmel und der Erde. Man brachte ihn insbesondere mit esoterischem Wissen in Verbindung und nannte ihn „den Geheimnisvollen“ oder den „Unbekannten“. (Klaus Priesner, Karin Figala, Alchemie, Lexikon einer hermetischen Wissenschaft, München 1998, S.173). Auch in dieser Funktion erleben wir  den Alten mit dem Rauschebart im Roman: in Geheimschrift Prophezeiungen auf Pergament schreibend. Seine Kenntnisse der Alchemie sind profunde.