Eine abendliche Kanufahrt am Seginaw

Alexis de Tocqueville, Tocqueville au Bas-Canada. (Pdf S. 43/44), Sommer 1831:

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Asenen, Schweden

Als der Abend gekommen war stiegen wir wieder ins Kanu. Wir vertrauten auf die am Morgen erworbene Geschicklichkeit im Umgang mit dem Boot um allein einen Seitenarm des Saginaw hinauf zu paddeln, den wir vorher nur eingesehen hatten. Der Himmel war klar und wolkenlos, kein Lüftchen regte sich. Der Fluss schob seine Wassermassen durch einen dichten Wald, war dabei aber so langsam, dass es beinahe unmöglich war, zu sagen in welcher Richtung die Strömung ging.

Nach meinem Empfinden muss man, um sich eine angemessene Vorstellung von den Wäldern der Neuen Welt zu machen, einem der Flussläufe folgen, die in ihrem Schatten dahinströmen. Die Flüsse sind hier wie Gleise. Die Vorhersehung hat großen Wert darauf gelegt, diese in die Wildnis zu legen um sie so den Menschen zugänglich zu machen. Wenn man sich durch den Wald einen Weg bahnt, ist der Blick meistens stark begrenzt. Darüber hinaus ist der Weg, auf dem man dann geht, Menschenwerk. Die Flüsse sind im Gegensatz dazu Wege, auf denen man keine Spuren hinterlässt. Ihre Ufer lassen alles erkennen, was eine üppige und sich selbst überlassene Natur an großartigen und wunderbaren Eindrücken zu bieten hat. Die Wildnis lag zweifellos so vor uns, wie sie sich schon dem Anblick unserer Urahnen vor 6000 Jahren dargeboten hat: eine blühende Abgeschiedenheit, köstlich und mit Duft erfüllt, eine herrliche Behausung, ein lebender Palast, für Menschen erbaut, bis zu dem aber der Herrscher noch nicht vorgedrungen war. Das Kanu glitt leicht und geräuschlos dahin. Um uns herum herrschte eine unfassbare Ruhe und majestätische Stille. Wir waren völlig ergriffen und gebannt vom Anblick eines solchen Schauspiels. Unsere Dialoge wurden zunehmend spärlicher. Bald schon tauschten wir unsere Gedanken nur noch flüsternd aus. Schließlich verstummten wir gänzlich, zogen im Gleichklang unsere Paddel durchs Wasser und verfielen dabei beide in eine gelassenen Traumzustand von unaussprechlichem Zauber.

Wie ist zu erklären, dass die menschlichen Sprachen, die Begriffe für alle Arten von Schmerzen gefunden haben, auf unüberwindliche Schwierigkeiten stoßen, wenn es darum geht den zartesten und natürlichsten Empfindungen unseres Herzens Ausdruck zu verleihen? Wer vermag jemals verlässlich jene seltenen Augenblicke im Leben auszumalen in denen das eigene Wohlbefinden uns den Weg bereitet zur spirituellen Gelassenheit und wo sich vor unseren Augen ein vollkommenes, universales Gleichgewicht einstellt während der Geist, halb träumend, sich auf dem schmalen Grat zwischen Gegenwart und Zukunft, zwischen Realem und Möglichem bewegt. Umgeben von einer wunderbaren Natur atmen wir, mit uns selbst im Reinen und inmitten eines universellen Friedens, eine sanfte und feuchte Luft. Wir richten unsere Aufmerksamkeit auf das gleichmäßige Klopfen in unseren Arterien, von denen jeder einzelne Pulsschlag das Vergehen der Zeit markiert, die uns Schlag um Schlag in die Ewigkeit zu entschwinden scheint. Zahlreiche Menschen haben im Laufe eines langen Lebens vielleicht eine Vielzahl an Jahren vorüberziehen sehen ohne auch nur ein einziges Mal etwas vergleichbares zu empfinden, wie wir es gerade zu beschreiben versuchten. Diese können uns nicht verstehen. Aber es gibt doch einige, davon sind wir überzeugt, in deren Gedächtnis und im Grund deren Herzens etwas anklingt, das sich zu unseren Bildern zusammenfügt und bei denen eine Erinnerung an diese wenigen flüchtigen Stunden erwacht, die weder die Zeit noch die Geschäftigkeit des Alltags auszulöschen vermögen.

Deutsche Übertragung: Robert Seidemann

Une escapade tardive sur la Saginaw

Alexis de Tocqueville, Au Bas-Canada. (Pdf S. 43/44) en été 1831:

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Schären bei Karlskrona, Schweden

« Le soir étant venu nous remontâmes dans le canot et, nous fiant à l’expérience que nous avions acquise le matin, nous partîmes seuls pour remonter un bras de la Saginaw que nous n’avions fait qu’entrevoir. Le ciel était sans nuages, l’atmosphère pure et immobile. Le fleuve roulait ses eaux à travers une immense forêt, mais si lentement qu’il eût été presque impossible de dire de quel côté allait le courant. Nous avons toujours éprouvé que, pour se faire une idée juste des forêts du Nouveau Monde, il fallait suivre quelques-unes des rivières qui circulent sous leurs ombrages. Les fleuves sont comme de grandes voies par lesquelles la Providence a pris soin, dès le commencement du monde, de percer le désert pour le rendre accessible à l’homme. Lorsqu’on se fraye un passage à travers le bois, la vue est le plus souvent fort bornée. D’ailleurs le sentier même où vous marchez est une œuvre humaine. Les fleuves au contraire sont des chemins qui ne gardent point de traces, et leurs rives laissent voir librement tout ce qu’une végétation vigoureuse et abandonnée à elle-même peut offrir de grands et de curieux spectacles. Le désert était là tel qu’il s’offrit sans doute il y a six mille ans aux regards de nos premiers pères; une solitude fleurie, délicieuse, embaumée; magnifique demeure, palais vivant, bâti pour l’homme, mais où le maître n’avait pas encore pénétré. Le canot glissait sans efforts et sans bruit; il régnait autour de nous une sérénité, une quiétude universelles. Nous-mêmes, nous ne tardâmes pas à nous sentir comme amollis à la vue d’un pareil spectacle. Nos paroles commencèrent à devenir de plus en plus rares; bientôt nous n’exprimâmes nos pensées qu’à voix basse. Nous nous tûmes enfin, et relevant simultanément les avirons, nous tombâmes l’un et l’autre dans une tranquille rêverie pleine d’inexprimables charmes.

D’où vient que les langues humaines qui trouvent des mots pour toutes les douleurs, rencontrent un invincible obstacle à faire comprendre les plus douces et les plus naturelles émotions du cœur ? Qui peindra jamais avec fidélité ces moments si rares dans la vie où le bien-être physique vous prépare à la tranquillité morale et où il s’établit devant vos yeux comme un équilibre parfait dans l’univers, alors que l’âme, à moitié endormie, se balance entre le présent et l’avenir, entre le réel et le possible, quand, entouré d’une belle nature, respirant un air tranquille et tiède, en paix avec lui-même au milieu d’une paix universelle, l’homme prête l’oreille aux battements égaux de ses artères dont chaque pulsation marque le passage du temps qui pour lui semble ainsi s’écouler goutte à goutte dans l’éternité. Beaucoup d’hommes peut-être ont vu s’accumuler les années d’une longue existence sans éprouver une seule fois rien de semblable à ce que nous venons de décrire. Ceux-là ne sauraient nous comprendre. Mais il en est plusieurs, nous en sommes assurés, qui trouveront dans leur mémoire et au fond de leur cœur de quoi colorer nos images et sentiront se réveiller en nous lisant le souvenir de quelques heures fugitives que le temps ni les soins positifs de la vie n’ont pu effacer. »

Melquiadés erreicht den Zustand der Unsterblichkeit

Macondo ist für lange Jahre ein Ort ohne Friedhof und auch der Bau der Kirche erfolgt noch bevor konkreter Bedarf vorhanden ist. Als erster stirbt Melquiadés, der Zigeuner. Er sieht sein Ende kommen und weist Arcadio an: “Wenn ich sterbe, dann brennt drei Tage Quecksilber in meinem Zimmer ab“. Nach dem Sinn gefragt erklärt er kurz und knapp: „Ich habe die Unsterblichkeit erreicht“. (DTV 1987, S.88).

Quecksilber, synonym: Argentus vivum, Mercurius. Metall, Ordnungszahl 80, spezifisches Gewicht 13,59, Schmelzpunkt -33.84 °C, Kondensationspunkt: 356,5°C, chemisches Zeichen Hg, silberweißes, bei Raumtemperatur flüssiges Schwermetall.

Das Buch der Alaune und Salze ist ein Alchemie-Grundwerk. Es wurde ca. im 11. Jahrhundert in Spanien geschrieben. Als Quellen dienten Schriften von Islamischen Gelehrten wie Dschābir ibn Hayyān und Abu Bakr Mohammad Ibn Zakariya al-Razi sowie Schriften aus ägyptischen Kreisen. (Wikipedia). Es schildert die Vorstellung vom Quecksilber so:
“Rede über das Quecksilber: Wisse, dass es kalt und feucht ist, und dass Gott aus ihm alle Minerale geschaffen hat; daher ist es ihr Ursprung. Und es ist luftartig, das Feuer fliehend, doch wenn es eine Weile im Feuer gestanden hat, wird es wunderbare und hohe Werke vollbringen. Und es ist das, was in alle Metallkörper eingeht; es dringt ein und erhebt und erhöht die Körper. Wenn es sich daher mit einem beliebigen Körper vermischt hat, wird es ihn lebendig machen und ihn verschönern und ihn umwandeln von einem Zustand zum anderen, von einer Farbe in eine andere, wenn es mit ihm gemischt und verbunden worden ist. Und es ist immerwährendes Wasser, und es ist das Wasser des Lebens.“ Priesner, Figala, Alchemie, S. 296.

Schlange der Alchemisten

Der Merkurius vermittelt zwischen Körper und Geist und findet seinen bildlichen Ausdruck im Ouroboros, dem sich selbst verzehrenden Drachen als Symbol des permanenten Kreislaufs von Sterben und Wiedergeburt. Sein letzter Weg führt Melquiadés ins Wasser eines Flusses, er sagt ähnlich wie schon Borgés in seinem Gedicht „Son los ríos“ hier: „Somos del agua“.

“Años después, frente al pelotón de fusilamiento, Arcadio había de acordarse del temblor con que Melquíades le hizo escuchar varias páginas de su escritura impenetrable, que por supuesto no entendió, pero que al ser leídas en voz alta parecían encíclicas cantadas. Luego sonrió por primera vez en mucho tiempo y dijo en castellano: «Cuando me muera, quemen mercurio durante tres días en mi cuarto.» Arcadio se lo cantó a José Arcadio Buendía, y éste trató de obtener una información más explícita, pero sólo consiguió una respuesta: «He alcanzado la inmortalidad.» Cuando la respiración de Melquíades empezó a oler, Arcadio lo llevó a bañarse al río los jueves en la mañana. Pareció mejorar. Se desnudaba y se metía en el agua junto con las muchachos, y su misterioso sentido de orientación le permitía eludir los sitios profundos y peligrosos. «Somos del agua», dijo en cierta ocasión. Así pasó mucho tiempo sin que nadie lo viera en la casa, salvo la noche en que hizo un conmovedor esfuerzo por componer la pianola, y cuando iba al río con Arcadio llevando bajo el brazo la totuma y la bola de jabón de corozo envueltas en una toalla. Un jueves, antes de que lo llamaran para ir al río, Aureliano le oyó decir: «He muerto de fiebre en los médanos de Singapur.» Ese día se metió en el agua par un mal camino y no lo encontraron hasta la mañana siguiente, varios kilómetros más abajo, varado en un recodo luminoso y con un gallinazo solitario parado en el vientre.” Pdf, S.32.

Macondo: eine Geisteshaltung

Der Ort Arracataca in Kolumbien und seine Bewohner profitieren seit langem von neugierigen Literaturtouristen, die den Personen im Roman in der realen Welt nachstellen. Da kann man dann auf die Frage: „Wo wohnt denn Petra Cortes“ eine klare Antwort bekommen: Gleich hinter dem Bäcker im weißen Haus mit dem Papayabaum. Marquéz kannte die Umtriebigkeit der Dorfbewohner. Er erklärt ihr buntes Treiben mit der Phantasie der Besucher als Fälschung der Welt.

“Siempre he tenido un gran respeto por los lectores que andan buscando la realidad escondida detrás de mis libros. Pero más respeto a quienes la encuentran, porque yo nunca lo he logrado. En Aracataca, el pueblo del Caribe donde nací, esto parece ser un oficio de todos los días. Allí ha surgido en los últimos veinte años una generación de niños astutos que esperan en la estación del tren a los cazadores de mitos para llevarlos a conocer los lugares, las cosas y aun los personajes de mis novelas: el árbol donde estuvo amarrado José Arcadio el viejo, o el castaño a cuya sombra murió el coronel Aureliano Buendía, o la tumba donde Úrsula Iguarán fue enterrada —y tal vez viva— en una caja de zapatos. Esos niños no han leído mis novelas, por supuesto, de modo que su conocimiento del Macondo mítico no proviene de ellas, y los lugares, las cosas y los personajes que les muestran a los turistas solo son reales en la medida en que éstos están dispuestos a aceptarlos. Es decir, que detrás del Macondo creado por la ficción literaria hay otro Macondo más imaginario y más mítico aún, creado por los lectores, y certificado por los niños de Aracataca con un tercer Macondo visible y palpable, que es sin duda el más falso de todos. Por fortuna, Macondo no es un lugar sino un estado de ánimo que le permite a uno ver lo que quiere ver, y verlo como quiere”

Den Bericht von Alberto Salcedo Ramos dazu gab es in Ecos, marzo 2014, S.13 und im Cubamagzin.

Das geheime Wesen der Dinge

«Las cosas, tienen vida propia -pregonaba el gitano con áspero acento-, todo es cuestión de despertarles el ánima.» S.3. Der Alchimist geht davon aus, dass alle Dinge innere Geheimnisse bergen und in einem Zusammenhang stehen. Er ist auf der Suche nach dem passenden Schlüssel, um Zugang zu erhalten. Das können Apparate wie das philosophische Ei, hier der Magnet oder Zauberformeln sein. Kant dazu lakonisch: das Ding an sich steht dem Menschen nicht zur Verfügung.

hermes_blJoseph von Eichendorff
Wünschelrute

Schläft ein Lied in allen Dingen,

die da träumen fort und fort,

Und die Welt hebt an zu singen,

Triffst Du nur das Zauberwort.

Prophezeiung

Die Zukunft wird den Buendias an mehreren Stellen in ihren Träumen angedeutet. Das beginnt schon mit José Arcadio, als er noch mit seinem Gefolge durch den Urwald wandert und einen Ort zum Bleiben sucht. „José Arcadio Buendía soñó esa noche que en aquel lugar se levantaba una ciudad ruidosa con casas de paredes de espejo. Preguntó qué ciudad era aquella, y le contestaron con un nombre que nunca había oído, que no tenía significado alguno, pero que tuvo en el sueño una resonancia sobrenatural: Macondo.” S.12. Der Name des Dorfes steht damit fest, was es mit dem Traum auf sich hat, erkennt er nicht. Von ganz anderem Kaliber sind die Weissagungen des Melquíades:  “Melquíades profundizó en las interpretaciones de Nostradamus. Estaba hasta muy tarde, asfixiándose dentro de su descolorido chaleco de terciopelo, garrapateando papeles con sus minúsculas manas de gorrión, cuyas sortijas habían perdido la lumbre de otra época. Una noche creyó encontrar una predicción sobre el futuro de Macondo. Sería una ciudad luminosa, con grandes casas de vidrio, donde no quedaba ningún rastro de la estirpe de las Buendía.” S.24

Die Prophezeiung des Nostradamus, bei der man an ein absehbares Weltende denkt, wird hier auf Macondo bezogen: Die Familie ist ausgestorben, das Dorf ist weg. Es sieht aus wie New York auf den Granitfelsen des Zeltplatzes von Häuptling Mana Hata: eine lichterne Stadt aus Beton, Stahl und Glas. Klar, dass der alte Wahrsager auf einem Dreibein hockt wie ehedem das Orakel von Delphi. Er bezieht die Weissagungen des Nostradamus in seine Weissagungen ein.Nostradamus_1568

Michel de Nostredame, dit Nostradamus, né le 14 décembre 1503 à Saint-Rémy-de-Provence et mort le 2 juillet 1566 à Salon-de-Provence, était un apothicaire français. Pratiquant l’astrologie comme tous ses confrères à l’époque de la Renaissance, il est surtout connu pour ses prédictions sur la marche du monde. Der zum Katholizismus konvertierte Jude lebte in bewegten Zeiten. Er veröffentlichte am 4.5.1550 die „Prophezeiungen“ in Lyon. Sie waren auf Französisch verfasst und jeweils in Zenturien unterteilt, d.h. 100 Verse zu je vier Zeilen (las centurias de Nostradamus, s.u.). Interessant ist die Übersicht der von ihm verwendeten Techniken (wikipedia français):

–          la fureur poëtique : die dichterische Glut

–          le subtil esprit du feu de l’oracle de Delphes : der erhabene Geist des Feuers des Orakels von Delphi

–          l’eau de l’oracle de Didymes : das Wasser des Orakels von Dydima

–          l’astrologie judiciaire, l’art de juger de l’avenir d’après le mouvement des planètes, mais Nostradamus se disait « astrophile » plutôt qu’astrologue : der planetarischen Voraussicht

–          ­les sacrées Écritures, ou les sacrées lettres (bien qu’il n’ait probablement pas possédé une Bible telle quelle, interdite à l’époque aux laïques : il en aurait utilisé des extraits trouvés dans Eusèbe, Savonarole, Roussat et le Mirabilis Liber) : der heiligen Schriften, die Bibel selbst war ihm als Leien nicht zugänglich, also Zuschreibungen und Ausschnitte von Zeitgenossen

–          la calculation Astronomique, selon de prétendus cycles datant d’Ibn Ezra et de bien avant. Nostradamus prétend arrêter ses prédictions à l’an 3797 : Die astronomische Berechnung, nach der er auf er seine Prophezeiungen im Jahr 3797 enden lässt.

–          le songe prophétique : der prophetische Traum

–          l’incubation rituelle : die rituelle Befruchtung

Zum Glück ist es bis zum Jahr 3797 noch ein Weilchen hin, aber der Gedanke an ein vorhersagbares Ende der Welt kehrt permanent wieder und die Prophezeiungen sind dann jedes Mal aufs Neue aktuell, zuletzt bei der Zeitenwende ins dritte Jahrtausend. Später vertieft sich Aureliano in das Wissen der Menschen im Mittelalter und die Prophezeiungen des Nostradamus: “Aureliano no abandonó en mucho tiempo el cuarto de c. Se aprendió de memoria las leyendas fantásticas del libro desencuadernado, la síntesis de los estudios de Hermann, el tullido; los apuntes sobre la ciencia demonológica, las claves de la piedra filosofal, las centurias de Nostradamus y sus investigaciones sobre la peste, de modo que llegó a la adolescencia sin saber nada de su tiempo, pero con los conocimientos básicos del hombre medieval.” S.147 Er muss noch zahlreiche weitere Rätsel lösen und Bücher wälzen, bis er das Geheimnis der Schrift auf den Pergamenten des Melchiades löst. Als er wie versteinert den Ameisen zusieht, wie sie den schon aufgedunsenen Leichnam seines eigenen Sohnes fortschleppen, eröffnet sich ihm der Zugang, er liest als erstes dies:

„El primero de lo estirpe está amarrado en un árbol y al último se lo están comiendo las hormigas.” S.171
Den ersten der Sippe binden sie an einen Baum, den letzten fressen die Ameisen.

Während er den Tod seines Sohnes als des letzten seiner Sippe schon gesehen hat, verfolgt er die Chronik der Buendias in den Prophezeiungen des Melquiades. Gespannt erwartet er das Ende der Weissagungen und damit seinen eigenen Tod.

Sprichwörter

Marquéz liebt es Sätze einzufügen, die man wie früher auf Kalenderblätter übertragen oder wie heute üblich auf Facebook posten könnte. Sie sind fein auf die Situation abgestimmt, funktionieren aber als universale Aussage auch außerhalb des Romans. Man kann ihnen einfach nur zustimmen und bekommt dabei das Gefühl, dem Stein der Weisen ein Stück näher gekommen zu sein. Hier eine Auswahl:

Das Geheimnis eines guten Alters ist nichts anderes als ein ehrenhafter Pakt mit der Einsamkeit

“…, el coronel Aureliano Buendía apenas si comprendió que el secreto de una buena vejez no es otra cosa que un pacto honrado con la soledad.” Pdf S.83
Die Söhne erben den Spleen ihrer Väter
«No tienes de qué quejarte -le decía Úrsula a su marido-. Los hijos heredan las locuras de sus padres.» Pdf S.19

Ich bin hier von der Übersetzung Curt Meyer-Clasons abgewichen: die Söhne spiegeln in der Tat das Verhalten der größten Vorbilder in ihrem Leben: ihrer Väter. Das Wort hijos kann Kinder oder Söhne bedeuten. Zu Beginn hat Ursula nur Söhne. Ob man Narrheit oder Spleen sagt ist dabei zweitrangig. Der nächste weise Spruch von Urmutter Úrsula bezieht sich auch auf Söhne:

Alle Söhne sind gleich: Anfangs sind sie leicht zu erziehen, sind gehorsam, pflichtbewusst und scheinbar unfähig, einer Fliege etwas zu Leide zu tun. Aber kaum sprießt ihnen ein Barthaar, stürzen sie sich gleich ins Verderben.

«Todos son iguales -se lamentaba Úrsula-. Al principio se crían muy bien, son obedientes y formales y parecen incapaces de matar una mosca, y apenas les sale la barba se tiran a la perdición.» Pdf S.64

Man stirbt nicht wenn man soll, sondern wenn man kann.

“Una mañana encontró a Úrsula llorando bajo el castaño, en las rodillas de su esposo muerto. El coronel Aureliano Buendía era el único habitante de la casa que no seguía viendo al potente anciano agobiado por medio siglo de intemperie. «Saluda a tu padre», le dijo Úrsula. Él se detuvo un instante frente al castaño, y una vez más comprobó que tampoco aquel espacio vacío le suscitaba ningún afecto.
-¿Qué dice? -preguntó.
-Está muy triste -contestó Úrsula- porque cree que te vas a morir.
-Dígale -sonrió el coronel- que uno no se muere cuando debe, sino cuando puede.” Pdf S.100
Auch hier bin ich anderer Meinung als Meyer-Clason: deber würde ich eher mit sollen und nicht mit müssen übersetzten. Es besteht irgendwo der Wunsch bei Erben oder Feinden. Die sagen dann, er soll sterben. Bei muss fällt mir eher ein Todesurteil ein und dann ist das können nicht mehr im eigenen Entscheidungsbereich. Aber das ist beim Oberst Buendía natürlich ein schlechtes Beispiel.

Die mosaische Trennung

Eine markante Stelle in der Bibel im alten Testament betrifft die Geschichte von Moses und dem goldenen Kalb. Hier meldet sich zunächst Gott zu Wort: „Du sollst keine anderen Götter neben mir haben“. Moses fordert daraufhin die Leviten auf, all jene zu töten, die sich nicht zu dem einen Gott bekennen möchten. Die Leviten folgen Moses aufs Wort: das kostet dreitausend Menschen das Leben. Die Stelle lässt sich als endgültiger Sieg des Monotheismus verstehen und geht mit der mosaischen Unterscheidung in treue Anhänger Gottes und Heiden einher. (vgl. Jan Assmann, Moses der Ägypter, 1997 und aktuell „Die Gewalt des einen Gottes“. Die Monotheismusdebatte zwischen Jan Assmann, Micha Brumlik, Peter Sloterdejk und anderen, Berlin 2014). Peter Sloterdejk sagt über diese Stelle in der Bibel, sie habe eine neue Qualität des Tötens begründet: „Es dient nicht mehr nur dem Überleben eines Stammes, sondern dem Triumph eines Prinzips“.

Moses 2, Exodus, Die Leviten üben Gericht an den Übertretern

Als nun Mose sah, dass das Volk zügellos geworden war – denn Aaron hatte ihm die Zügel schießen lassen, seinen Widersachern zum Spott ,da stellte sich Mose im Tor des Lagers auf und sprach: Her zu mir, wer dem HERRN angehört! Da sammelten sich zu ihm alle Söhne Levis. Und er sprach zu ihnen: So spricht der HERR, der Gott Israels: Jeder gürte sein Schwert an seine Hüfte, und geht hin und her, von einem Tor zum anderen im Lager, und jeder erschlage seinen Bruder, seinen Freund und seinen Nächsten! Und die Söhne Levis machten es, wie ihnen Mose gesagt hatte, und an jenem Tag fielen vom Volk an die 3000 Männer.

Y viendo Moisés al pueblo desenfrenado, porque Aarón les había permitido el desenfreno para ser burla de sus enemigos se paró Moisés a la puerta del campamento, y dijo: El que esté por el SENOR, venga a mí. Y se juntaron a él todos los hijos de Leví. Y él les dijo: Así dice el SENOR, Dios de Israel: „Póngase cada uno la espada sobre el muslo, y pasad y repasad por el campamento de puerta en puerta, y matad cada uno a su hermano y a su amigo y a su vecino. Y los hijos de Leví hicieron conforme a la palabra de Moisés; y cayeron aquel día unos tres mil hombres del Pueblo.

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Bye bye my Love: Kubanischer Künstler zur Emigration in Richtung USA

Im Roman nehmen die Einwohner von Macondo an einem Tanz ums goldene Kalb in Form der United Fruit Company, dem Bananenanbau und den damit verbundenen Dollars teil. Die Forderungen nach Verbesserung der Gehälter und Arbeitsbedingungen manifestiert sich in Demonstrationen. Eine große Versammlung der Arbeiter mit ihren Frauen und Kindern nimmt sich wie ein Volksfest aus.  Gnadenlos beenden Staat und Company das Tänzchen mit dem Massaker der 3000 am Bahnhofsplatz.

„José Arcadio Segundo no habló mientras no terminó de tomar el café. -Debían ser como tres mil -murmuré. -¿Qué? -Los muertos -aclaró él-. Debían ser todos los que estaban en la estación.” Pdf S.127 “-Eran más de tres mil -fue todo cuanto dijo José Arcadio Segundo-. Ahora estoy seguro que eran todos los que estaban en la estación.” Pdf S.129 Die Geschicht aus Aureliano Segndos Kindermund tut Wahrheit kund. Wie schon José Arcadio macht der Sohn den Eindruck eines Verrückten, ist dabei aber äußert hellsichtig: “Aureliano Segundo descubrió esa amistad mucho tiempo después de iniciada, cuando oyó al niño hablando de la matanza de la estación. Ocurrió un día en que alguien se lamentó en la mesa de la ruina en que se hundió el pueblo cuando lo abandonó la compañía bananera, y Aureliano lo contradijo con una madurez y una versación de persona mayor. Su punto de vista, contrario a la interpretación general, era que Macondo fue un lugar próspero y bien encaminado hasta que lo desordenó y lo corrompió y lo exprimió la compañía bananera, cuyos ingenieros provocaron el diluvio como un pretexto para eludir compromisos con los trabajadores. Hablando con tan buen criterio que a Fernanda le pareció una parodia sacrílega de Jesús entre los doctores, el niño describió con detalles precisos y convincentes cómo el ejército ametralló a más de tres mil trabajadores acorralados en la estación, y cómo cargaron los cadáveres en un tren de doscientos vagones y los arrojaron al mar. Convencida como la mayoría de la gente de la verdad oficial de que no había pasado nada, Fernanda se escandalizó con la idea de que el niño había heredado los instintos anarquistas del coronel Aureliano Buendía, y le ordenó callarse. Aureliano Segundo, en cambio, reconoció la versión de su hermano gemelo. En realidad, a pesar de que todo el mundo lo tenía por loco, José Arcadio Segundo era en aquel tiempo el habitante más lúcido de la casa.” Pdf S.143 f Die Moral von der Geschichte: Wer nicht zum Prinzip des uneingeschränkten oder neoliberalen Kapitalismus steht, der gehört nicht zu den Auserwählten. Er steht auf der Abschussliste.

Hermes Trismegistos alias Melchíades der Alchemist

Die Alchemie spielt eine zentrale Rolle in 100 Jahre Einsamkeit. Wie ein Rahmen liegt sie als Meta-Geschichte über der eigentlichen Erzählung. Wie bei Alchemisten üblich, ist die Metageschichte in einer Geheimsprache verfasst und erschließt sich nur dem eingeweihten Adepten. Dieser muss aus eigenem Antrieb Rätsel um Rätsel lösen, um zur Erleuchtung zu gelangen. Das Ganze geht stufenlos ins esoterisch oder religiöse über. Zentrale Figur im alchemistischen Spiel ist dabei zunächst Melchíades. Er prägt den Roman wie kaum eine zweite Figur. Er ist auf von der ersten Seite an präsent und auf den letzten Seiten liest Aureliano postum aus seinen Aufzeichnungen. Diese sind nichts weniger als die Geschichte des Romans und seiner Figuren in verschlüsselter Form. Der letzte der Sippe Buendía kann es deshalb bei der Lektüre kaum erwarten, ans Ende der Aufueichnungen zu gelangen: ihn erwartet die Lektüre seines eigenen Schicksals!

Der alte Ziegeuner Melchíades wird mit den Attributen von Hermes Trismegistos beschrieben und ähnelt dessen Darstellung auf alten Kupferstichen : “corpulento, de barba montaraz y manos de gorrión”(Kapitel 1, pdf S.3) und “con el sombrero de alas de cuervo, como la materialización de un recuerdo que estaba en su memoria desde mucho antes de nacer.”(Kapitel XVIII, pdf S.147) Er gleicht dem Gott aus der Familie des Zeusclans mit dem geflügelten Helm.

http://earthstation1.simplenet.com
Kupferstich aus Michael Maier, Symbola aurea mensae, Frankfurt a.M. 1617

„Die Götter-Gestalt des Hermes Trismegistos (griechisch Ἑρμῆς Τρισμέγιστος für „dreimal größter Hermes“) ist eine synkretistische Verschmelzung des griechischen Gottes Hermes mit dem ägyptischen Gott Thot. Bis in die frühe Neuzeit glaubte man, Hermes Trismegistos hätte tatsächlich gelebt und wäre der Verfasser der nach ihm benannten hermetischen Schriften.“ „Namengebend für Hermes waren ursprünglich als Wegmarken für Reisende dienende Steinhaufen, später Stelen mit einem Kopf und einem erigierten Phallus, eben die sogenannten Hermen. Hermes war der Gott der Reisenden, Hirten, Kaufleute und Diebe, Bote des Zeus und Totenbegleiter.“ Wikipedia

Als Reisender hat er die entferntesten Orte der Welt durchstreift: “Sobrevivió a la pelagra en Persia, al escorbuto en el archipiélago de Malasia, a la lepra en Alejandría, al beriberi en el Japón, a la peste bubónica en Madagascar, al terremoto de Sicilia y a un naufragio multitudinario en el estrecho de Magallanes.” (pdf S.5)

Als Kaufmann bzw. Merkantilist (D), mercenaire (F), mercader (S) ist er ein Nachfahre von Merkur, der römischen Variante des Hermes. Seine Anpreisungen der neuesten Erfindungen sind unschlagbar, man kauft ihm gerne alles ab. Seit den Tagen des Quellekatalogs freuen wir uns auf die Ankunft unserer Päckchen durch den Hemes Versand. Auf den antiken Statuen wird der Götterbote stets mit dem geflügelten Helm dargestellt, der besagten Kappe mit den Lederklappen im Roman, bei deren Anblick in Aurelianos Vorstellung Bilder auftauchen, die weit vor seine Zeit zurückreichen: nämlich über das alte Rom und das antike Griechenland bis ins Reich der Pharaonen

Interessant ist die Bedeutung des Hermes Urtyps Thot in der ägyptischen Mythologie. „Thot war der Gott des Mondes, der Astronomie bzw. Astrologie, der Magie und Medizin. Seit ca. 1500 v.Chr. erscheint er als der Gott der Weisheit, der Sprache, des Schreibens und als Schöpfer der Gesetze von Himmel und der Erde. Man brachte ihn insbesondere mit esoterischem Wissen in Verbindung und nannte ihn „den Geheimnisvollen“ oder den „Unbekannten“. (Klaus Priesner, Karin Figala, Alchemie, Lexikon einer hermetischen Wissenschaft, München 1998, S.173). Auch in dieser Funktion erleben wir  den Alten mit dem Rauschebart im Roman: in Geheimschrift Prophezeiungen auf Pergament schreibend. Seine Kenntnisse der Alchemie sind profunde.

Der Autor und sein Leser: zwei Seiten einer Medaille

A quien Leyere

Si las paginas de este libro consisten algún verso feliz, perdónenme el lector la descortesia de haberlo usurpado yo previamente. Nuestres nadas poco defieren; es trivial y fortunita la circumstancia de que seas tù el lector de estos ejercicios, y yo su redactor.

J.L. Borges, Obras completas, Buenos Aires 1974, Madrid 1977

An den Leser

Wenn den Seiten dieses Buches irgendein glücklicher Vers gelingt, möge mir der Leser die Unhöflichkeit verzeihen, daß ich diesen zuerst usurpiert habe. Unsere Spielereien unterscheiden sich wenig; trivial und zufällig ist der Umstand, daß du der Leser dieser Übungen bist, und ich ihr Verfasser.

Jorge Luis Borges, als Vorwort in: Zyklische Nacht, Ausgewählte Gedichte, Spanisch/Deutsch, Serie Piper, München, 1990

Auch an anderer Stelle kommt er auf die Verbindung zu seinem Leser zu sprechen:
Tú, que me lees, ¿éstas seguro de entender mi lenguaje?
Du, der du mich liest, bist du sicher meine Sprache zu verstehen?

Borges, La biblioteca de Babel, Cuentos selectos y un poema, Reclam, Stuttgart 2010.